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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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Touristenstädte wie Portofino an der eleganten Riviera di Ponente. Zwar waren die seltenen ausländischen Touristen, die es mit dem Boot oder zu Fuß nach Porto Vergogna verschlug, meistens verirrte Franzosen oder Schweizer, aber Pasquale hegte die Hoffnung, dass die Sechzigerjahre eine Flut von Amerikanern bringen würden, angeführt vom bravissimo Präsidenten John Kennedy und seiner Frau Jacqueline. Doch um zur Destinazione turistica primaria zu werden, wie Pasquale es sich erhoffte, musste sein Dorf attraktiv für diese Urlauber sein. Und dazu brauchte es erst einmal einen Strand.
    Und so stand Pasquale brusttief im Wasser und balancierte einen großen Stein unterhalb seines Kinns, als das rote Mahagoniboot in die Bucht schaukelte. Sein alter Freund Orenzio steuerte es im Auftrag des vermögenden Winzers und Hoteliers Gualfredo, der im Tourismus südlich von Genua das Sagen hatte, dessen nobles, zehn Meter langes Sportboot allerdings nur selten den Weg nach Porto Vergogna fand. Pasquale beobachtete, wie das Boot pendelnd zur Ruhe kam, und ihm fiel nichts anderes ein, als zu rufen: »Orenzio!« Sein Freund war verwirrt von der Begrüßung; sie kannten sich, seit sie zwölf waren, doch sie waren keine Brüller, er und Pasquale, eher … Wahrnehmer, Lippenkräusler, Brauenhochzieher. Grimmig nickte Orenzio zurück. Er verstand keinen Spaß, wenn er Touristen im Boot hatte, vor allem Amerikaner. »Das sind ernste Leute, die Amerikaner«, hatte er Pasquale einmal erklärt. »Noch misstrauischer als die Deutschen. Wenn man zu viel lächelt, glauben die Amerikaner, dass man sie übers Ohr haut.« Heute machte Orenzio ein besonders mürrisches Gesicht und schielte kurz nach hinten zu der Frau im Heck, deren lange, hellbraune Jacke fest um ihre dünne Taille geschlungen und deren Gesicht fast völlig unter dem Schlapphut verborgen war.
    Dann wandte sich die Frau mit einer leisen Bemerkung auf Englisch – Amerikanisch – an Orenzio, die vom Wasser weitergetragen wurde. »Entschuldigen Sie, was macht der Mann da?«
    Pasquale wusste, dass der englische Wortschatz seines Freun des begrenzt war und er deshalb aus Unsicherheit Fragen in dieser furchtbaren Sprache meist so knapp wie möglich beantwortete. Orenzio sah kurz zu Pasquale, der einen großen Stein für den Bau seines Wellenbrechers in den Händen hielt, und versuchte sich mit einer Spur von Ungeduld an dem englischen Wort für Strand. Doch statt beach wurde daraus bitch. Die Frau neigte den Kopf, als hätte sie sich verhört. Pasquale wollte aushelfen und murmelte, dass der bitch für die Touristen war, »per i turisti«. Doch die schöne Amerikanerin schien ihn gar nicht zu beachten.
    Pasquales Traum vom Tourismus war ein Erbe seines Vaters. In den letzten zehn Jahren seines Lebens hatte sich Carlo Tursi darum bemüht, dass die fünf größeren Orte der Cinque Terre Porto Vergogna als sechsten im Bunde aufnahmen. (»Wäre viel netter«, meinte er immer. »Sei terre, die sechs Länder. Cinque Terre kommt den Touristen doch so schwer über die Zunge.«) Doch dem winzigen Porto Vergogna fehlte der Reiz und der politische Einfluss der fünf größeren Nachbarorte. Während die fünf mit Telefonleitungen und schließlich sogar mit einer Bahnlinie, die durch Bergtunnel führte, verbunden und von den Saisontouristen und ihrem Geld überschwemmt wurden, verkümmerte der sechste wie ein überzähliger Finger. Carlos zweiter fruchtloser Ehrgeiz war, dass diese wichtige Bahnlinie um einen Kilometer und einen Tunnel verlängert wurde, um Porto Vergogna mit den größeren Küstenstädten zu verbinden. Doch dazu kam es nicht, und da die nächste Straße durch die terrassenförmigen Weinberge hinter den Cinque-Terre-Klippen führte, blieb Porto Vergogna abgeschnitten, allein in seinem Spalt in den schwarzen, runzligen Felsen, von denen nur steile Fußpfade hinab zum Meer führten.
    Pasquales Vater war zehn Monate vor der Ankunft der glanzvollen Amerikanerin gestorben. Ein schneller und stiller Tod hatte Carlo beim Lesen seiner geliebten Zeitungen ereilt – in Form eines in seinem Gehirn geplatzten Blutgefäßes. Immer wieder spielte Pasquale die letzten Minuten seines Vaters durch: Er schlürfte einen Espresso, zog an einer Zigarette, lachte über eine Meldung in der Mailänder Zeitung (Pasquales Mutter hob die Seite auf, konnte aber nichts Lustiges darin entdecken) und sank zusammen, als wäre er eingenickt. Pasquale war an der Universität Florenz, als er die Nachricht vom
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