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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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erlaubt hat, die Räumlichkeiten weiter zu nutzen: eine Sense an der Wand einer Traktorfabrik. Außerdem ist das Büro Teil einer Vereinbarung, die Michael vor einigen Jahren unterschrieben hat, als er Geld brauchte. Sie gibt Universal ein Vorkaufsrecht auf alles, was er produziert (herzlich wenig in den letzten Jahren).
    Im Büro macht Claire Licht, gleitet hinter ihren Schreibtisch und schaltet den Computer an. Sie geht direkt zu den Kassenzahlen, vorgezogenen Erstvorstellungen und Wochenenddauerbrennern, auf der Suche nach einem Hoffnungsfunken, nach einer Trendwende in letzter Sekunde, die ihr vielleicht entgangen ist, doch die Zahlen zeigen, was sie schon seit Jahren zeigen: alles Kinderkram, alles sicherer 3-D-Animationsfortsetzungsschrott, alles im Bereich algorithmischer Verkaufsprognosen auf der Basis von Umsatz, Trailer, Poster, Reaktion des Testpublikums im Auslandsmarkt. Filme sind inzwischen nur noch ein Zugeständnis, ein Werbeforum für neues Spielzeug, ein Sprungbrett für Videospiele. Erwachsene warten drei Wochen, bis sie einen anständigen Film auf Abruf bekommen, oder sie sehen Smart- TV . Neuheiten im Kino sind in Wirklichkeit nur noch hochgetunte Fantasy-Videospiele für Halbwüchsige mit geschwollenen Hoden und ihre bulimischen Gespielinnen. Der Film – Claires erste Liebe – ist tot.
    Sie weiß noch genau, wann sie ihr Herz verloren hat: am 14. Mai 1992 um ein Uhr nachts, zwei Tage vor ihrem zehn ten Geburtstag, als sie glaubte, aus dem Wohnzimmer ein Lachen zu hören, und ihren Vater weinend vorfand, der ein hohes Glas mit einer dunklen Flüssigkeit in der Hand hielt und im Fernsehen einen alten Film anschaute. Komm her, mein Engel. Sie setzte sich neben ihn, und schweigend sa hen sie sich zusammen die letzten zwei Drittel von Frühstück bei Tiffany an. Claire war erstaunt über das Leben auf dem kleinen Bildschirm, als hätte sie es sich immer nur vorgestellt, ohne es zu kennen. Das war die Macht des Films: wie ein Traum aus Déjà-vus. Drei Wochen später verließ ihr Vater die Familie, um die vollbusige Leslie zu heiraten, die vierundzwanzigjährige Tochter seines früheren Kanzleipart ners, doch für Claire blieb es immer Holly Golightly, die ihren Daddy gestohlen hatte.
    Wir gehören zu niemandem, und niemand gehört zu uns.
    Sie studierte Film an einer kleinen Hochschule für Gestaltung und machte ihren Master an der UCLA . Als sie bereits auf dem besten Weg zum Doktorgrad war, passierten in ra scher Folge zwei Dinge, die ihr zu denken gaben. Zuerst hatte ihr Vater einen leichten Schlaganfall und zwang Claire somit, sich mit seiner und infolgedessen auch ihrer eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Und dann hatte sie eine Vision von sich selbst dreißig Jahre später: eine unverheiratete Bibliothekarin in einer Wohnung voller Katzen, die nach Regisseuren der Nouvelle Vague benannt sind. (Godard, lass Rivettes Kauspielzeug in Ruhe! –)
    Sie besann sich auf den Ehrgeiz, den Frühstück bei Tiffany in ihr geweckt hatte, und verließ die abgeschiedene akademische Welt, um sich selbst am Machen von Filmen zu versuchen, statt sie nur zu studieren.
    Als Erstes bewarb sie sich bei einer großen Talentagentur. Ihr Gesprächspartner dort schenkte ihrem dreiseitigen Lebenslauf kaum Beachtung und stellte gleich eine Frage: »Claire, wissen Sie, was Coverage ist?« Der Mann redete wie mit einer Sechsjährigen und erklärte Claire, dass es in Hollywood »ziemlich hektisch« zuging und sich die Leute von Agenten, Managern, Buchhaltern und Anwälten zuarbeiten ließen. PR -Spezialisten waren für die Bilderwerbung zuständig, Assistenten machten Besorgungen, Hausmeister mähten den Rasen, Hausangestellte machten sauber, Au-pair-Mädchen zogen Kinder auf, Hundeausführer gingen Gassi. Und jeden Tag bekamen diese vielbeschäftigten Leute stapelweise Drehbücher, Romane und Treatments; war es da nicht naheliegend, dass sie dabei ebenfalls Hilfe brauchten? »Claire«, meinte ihr Gesprächspartner verschwörerisch, »ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis. Hier liest niemand. «
    Nach den Eindrücken bei ihren letzten Kinobesuchen fand Claire eigentlich nicht, dass das ein großes Geheimnis war.
    Doch sie behielt diesen Einwand für sich und wurde Story-Analyst. Sie schrieb Zusammenfassungen von Romanen, Drehbüchern und Treatments, verglich sie mit Kinohits, bewertete die Figuren, den Dialog und das kommerzielle Potenzial, damit Agenten und ihre Kunden so tun konnten, als hätten sie das Material
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