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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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still in der Wohnung bis auf ein sanftes Rauschen irgendwo in geheimer Tiefe, ein Rauschen und das Ticken der Wanduhr, die er an der Portobello Road gekauft hat. Er bewegt sich nicht. Er starrt auf den Teppich. Dann setzt er einen Fuß vor den anderen, geht in die Richtung, aus der das Rauschen ertönt. Vor der Badezimmertür zögert er abermals, streckte dann die Hand nach der Klinke aus.
    Er drückte die Klinke herunter.
    Auf den Kacheln nahe dem Waschbecken glitzert etwas.
    Er sieht den glitzernden Gegenstand, doch seine Augen lösen sich schnell von ihm, dann stellt er fest, daß der Wasserhahn nicht zugedreht ist, er erkennt darin, ohne überrascht zu sein, die Quelle des Rauschens, er sieht ihre Zahnbürste, die auf dem Rand des Waschbeckens liegt, eine offene Tube Zahnpasta daneben, warum schraubt sie eigentlich nie den Verschluss auf die Tube? Dann sieht er den Ärmel ihres roten Bademantels, des gleichen roten Baumwollbademantels, den sie seit ihrer Hochzeit benutzt hat, er sieht den roten Ärmel hinter dem Spalt der Badezimmertür.
    Er öffnet die Tür weiter.
    Einen Augenblick kann er sich nicht bewegen, kann nicht denken, nicht schreien.
    Sie hat den weißen Regenmantel an.
    Hinter der Badezimmertür ist sie hingestürzt, und in einem Augenblick des Erkennens begreift er, daß sie den Regenmantel trägt und nicht den Bademantel. Der rote Ärmel, den er sah, ist mit ihrem eigenen Blut getränkt. Sie liegt in einer Blutlache. Da ist eine Blutspur vom Waschbecken her, sie hat sich am Becken mit der glitzernden Rasierklinge die Pulsadern geöffnet, sie unter den Wasserstrahl gehalten, war dann ermattend vom Becken zurückgetaumelt, hatte die Klinge fallenlassen, war an der Tür hingestürzt. Ihr Blut breitet sich über die Kacheln, ihre Augen sind offen und starr, ihr Mund ist offen, in ihrem Haar, auf ihren nackten Brüsten ist Blut, er weiß, er wird sich übergeben müssen. Er taumelt zurück, gegen die gekachelte Wand. Er schüttelt den Kopf. Dann kehrt sein Bewußtsein zurück. Einen himmelstürmend erleichterten Augenblick lang denkt er: wie gut! – dann wirbelt er plötzlich herum, schmettert die Faust gegen die Badezimmerwand, zerschlägt den Stein seines Ringes. Warum hast du das getan? Ich Hebe dich doch, warum hast du das getan?
    MO 6-2367 war die Nummer des Bestattungsinstituts in Mount Kisco; er hatte gestern früh dort anrufen sollen, um zu klären, wieviel Wagen für den Trauerzug bereitgestellt werden mußten, wenn sie seine tote Frau zu Grabe trugen, wenn sie seine Grace mit Erde bedeckten, wenn sie …
    »Nein!« schrie er auf.
    Er saß aufrecht auf der Bank und starrte in die Dunkelheit. Sein Herz pochte, seine Hände zitterten.
    »Nein«, flüsterte er leise.
    Und bald darauf schlief er ein.
    Er erwachte.
    Er konnte nur ein paar Stunden geschlafen haben; und doch fühlte er sich merkwürdig erfrischt – er erwachte ganz unvermittelt, ohne jenen Übergang in den dämmernden Grenzbereich, aus dem er sich beim Aufwachen gewöhnlich erst lösen mußte. Er wußte genau, wo er war. Zwar schien ihn die Feststellung, daß er einen Straßenanzug trug, zunächst ein wenig zu überraschen; doch dann begriff er, daß man auf einer Holzbank im Central Park wohl nicht im Pyjama schlief. Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht – nicht um Müdigkeit wegzuwischen; eher war es eine Gewohnheitsgeste. Dann warf er einen Blick über den Weg, hinter dessen eisernem Geländer sich der Boden zu einem kleinen See senkte. Der See lief in einen schmalen Finger aus, umgeben von mächtigem Urgestein, weit dahinter der Beton der Fifth Avenue, darüber ein fahlblauer Himmel.
    Wer bin ich? fragte er sich.
     
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