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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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sind tot«, sagte Grace, und diesmal widersprach er ihr nicht.
    Auf der Portobello Road hatte die Kapelle im letzten Sommer Midnight in Moscow gespielt, und er hatte gegen ihren Einspruch die Uhr gekauft, weil nach Mailand nichts mehr zählte. Auf der großen Trommel stand in halbkreisförmiger Schrift der Name der Kapelle: THE LIMEHOUSE REGULARS. Die Kapelle marschierte mit schnellen Schritten, ihre Musik widerhallte in der belebten Straße, und er kaufte die Uhr, die später an der Wohnzimmerwand hängen und die Minuten in die Ewigkeit fortticken würde, während er, von Mal zu Mal in tieferer Bedrängnis, über den grünen Teppich schritt.
    Die Kapelle spielte Melancholy Baby. Braut und Bräutigam verabschiedeten sich diskret und versuchten, möglichst unbemerkt zu ihrem wartenden Wagen zu gelangen. Das trockene Schinkenbrot war ihm im Hals stecken geblieben, und er spülte es mit dem warmen Bier hinunter; dann stand er plötzlich auf und ging zur Treppe, an der Spiegelwand vorbei, ohne sich selbst einen Blick zuzuwerfen.
    »Gehen Sie jetzt?« fragte der Junge in Smoking. Sein Gesicht war mit Lippenstift beschmiert.
    Buddwing nickte und stieg die Treppe hinauf.
    MO 6-2367 …
    Mount Kisco, dachte er. Nicht Monument.
    Mount Kisco 6-2367 …
    Es war zu spät, jetzt noch anzurufen.
    Es war zu spät, um noch irgend etwas zu tun.
    »Im Augenblick können wir doch nichts tun«, hatte Dan gesagt, und dann waren sie zusammen ins Kino gegangen. Er ging die Straße entlang.
    Er wußte nicht, wer er war; es interessierte ihn auch nicht mehr. Sie waren beide tot seit jenem Sonntag in Mailand, vielleicht schon seit Jahren vorher; doch es war ihm gleichgültig, es war ihm einfach einerlei. Das hatte er auch am Telefon zu Dan gesagt: »Es ist mir gleichgültig.« Das ist doch nicht dein Ernst, hatte Dan erwidert. »Es ist schon seit Jahren vorbei«, sagte er. Das solltest du nicht sagen. »Es ist schon seit Jahren aus«, hatte er wiederholt.
    Das Haus war von Fremden überlaufen, und Dan hatte vorgeschlagen, fortzugehen, in ein Kino, im Augenblick konnten sie doch nichts tun, alle Vorkehrungen waren getroffen. Mount Kisco 6-2367, mehr hatte man nicht tun können. Nachdem Dan sich verabschiedet hatte, war er in die stille Wohnung am Sutton Place zurückgekehrt. Er wußte, daß er schlafen mußte; es war sehr spät. Er war in das Schlafzimmer gegangen, von dessen Fenster aus man die Queensboro Bridge sah, und hatte Brieftasche, Kleingeld und Schlüssel auf den Toilettentisch gelegt. Er hatte die Uhr abgenommen – er schlief nie mit der Armbanduhr; sie hatte einmal zu ihm gesagt: »Nimm die Uhr ab, um Himmels willen, ich möchte dich nackt« –, und das Taschentuch zu den anderen Dingen auf den Toilettentisch gelegt; dann hatte er sich umgedreht, auf das Bett gestarrt und war einfach aus der Wohnung hinausgegangen – in der Absicht, nie zurückzukehren.
    Er war todmüde.
    Es war nahezu drei Uhr früh. New York schlief. Er wanderte quer durch Italian Harlem, durch Spanish Harlem – in Spanish Harlem habe ich einmal die Bank gesprengt, kennst du die Geschichte schon? – und ging dann in den Central Park. Er fürchtete sich nicht vor Wegelagerern. Sie konnten ihn umbringen, wenn sie entdeckten, daß er nur einen Dollar und sechsunddreißig Cents bei sich trug – mehr konnten sie ihm nicht antun. Als er in den Park kam, griff er in die Tasche, zog das Geld heraus und warf es mit einer schnellen Bewegung hinter sich. »Hier!« rief er der Nacht zu, »nimm das! Alles andere hast du schon!« Die Banknote flatterte lautlos auf den Fußweg, die Münzen klirrten hinter ihm, dann war es wieder still.
    In den Büschen des Parks verbarg sich Leben.
    Lippen verbargen sich dort, die auf Küsse, Brüste, die auf Hände warteten, unentdeckte Welten. Mörder lagen im Hinterhalt. Es war ihm gleichgültig, er war längst tot.
    Er durchwanderte von der Hundertzehnten Straße aus den ganzen Park und fand schließlich eine Bank in der Nähe des Sees an der Neunundfünfzigsten Straße. Dann war er völlig erschöpft. Er streckte sich aus und schloß die Augen. Zuerst glaubte er zu träumen.
    Die Erinnerung kam so plötzlich, die Bilder blinkten so ungetrübt in seinem Hirn auf, daß er zunächst glaubte, eingeschlafen zu sein und zu träumen; die Wohnung ist zu still.
    Er öffnet die Tür mit dem Schlüssel; ein ungewöhnlicher Akt, normalerweise läutet er, und sie kommt zur Tür, um ihn einzulassen. Im Vorraum bleibt er stehen; es ist
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