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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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ihrer Nacktheit; und sie wußten zugleich, daß diese beiden Menschen, die mit ungläubigen Augen einen Fremden vor sich sahen, einander nichts anderes sein konnten als Fremde.
    »O Gott«, sagte Grace.
    »Grace«, sagte er in plötzlicher Panik, »weißt du noch …«
    »O Gott«, sagte sie.
    »Grace, wie oft wir …«
    »Wir kennen uns seit einer Million Jahren«, sagte sie tonlos.
    »Wir sind Dinosaurier. Ausgestorben. Wir sind tot.« Ihre Stimme versagte. »Wir sind tot.«
    »Nein«, sagte er.
    »Wir sind tot«, wiederholte sie.
    »Nein«, sagte er; er weigerte sich, es zu akzeptieren. Wer waren denn schon diese bleichen, nackten Fremden, die sie aus dem Spiegel anstarrten, die sich in ihr Leben drängten? Nein, dachte er, dazu ist es jetzt schon zu lange so, wir kennen einander zu gut, wir haben zu hart um den kleinen Fetzen Leben gekämpft, den wir schließlich in der Hand hatten. Nein! Es kann nicht sein, daß uns so etwas widerfährt. Grace, es gibt noch eine Zukunft für uns.
    Seine Augen fanden die ihren im Spiegel.
    Ich kenne dich, dachte er.
    Bitte, ich kenne dich.
    Bitte, wir haben doch schon so viel miteinander erlebt.
    Lass mich in deine Augen sehen.
    Ihre Augen waren fahl, farblos, gefühllos, hoffnungslos. Er hatte diese Augen schon einmal gesehen, nachts, vor langer Zeit, nachdem sie einander mit wütenden Anklagen überschüttet hatten; er hatte die gleichen fahlen, angstvollen Augen am nächsten Tag gesehen, als sie in ihrem weißen Regenmantel am Küchentisch saß – Grace, was tust du da im Regenmantel?
    Ich habe versucht, mich umzubringen, sagte sie.
    Rede keinen Unsinn!
    Doch, ich habe versucht, mich umzubringen.
    Grace, Grace – er nahm sie in die Arme, und sie weinte an seiner Schulter. Ist das der Sinn? fragte sie. Geht es darum im Leben? Er wußte es nicht; er konnte es ihr nicht sagen. Er tröstete sie, küßte ihr tränenfleckiges Gesicht, hielt sie in den Armen, legte seine Wange gegen ihre Hand, und wie Verschwörer verbrachten sie flüsternd den Nachmittag, liebten sich danach und fanden irgendwo neue Kraft. In ihre Augen kam langsam wieder Leben, Farbe kehrte zurück und mit ihr ein Entschluß, fast mehr als ein Entschluß: ein brennender Drang, ein Verzicht.
    Elf Jahre war es her, daß der junge Mann und das Mädchen, die sich in einem sonnigen, versteckten Park begegnet waren, als sich die Welt noch allein um griechische Mythologie und die Berührung einer Hand drehte, elf Jahre, daß der junge Mann und das Mädchen, die einander in einer Stadt, glitzernd wie das Universum, kennen gelernt hatten; elf Jahre, daß der junge Mann und das Mädchen, die einander feierlich in einer riesigen, steinernen, von Musik durchzitterten Kirche Liebe, Achtung und Fürsorge gelobt hatten; elf Jahre, daß der junge Mann und das Mädchen, die anfangs mit hellen, reinen Gesichtern und hoffnungsvoll leuchtenden Augen zusammengelebt hatten, dann eine Schwangerschaft, eine Fehlgeburt und die bitteren Vorwürfe, die daraus folgten, durchgestanden hatten – elf Jahre war es her, daß diese beiden jungen Menschen ihren Schwur flüsternd erneuert, ihre Gemeinsamkeit bekräftigt und sich und der Welt gelobt hatten, eins zu sein, nicht zu unterliegen, zu überleben, auszuhalten, zu triumphieren.
    Elf Jahre war es her.
    Und nun, nach all diesen Jahren, sahen sie einander in einem Hotelzimmer einer italienischen Stadt – nach all den beiläufigen Begegnungen und unverbindlichen Gesprächen, all den lässig gehaltenen Cocktailgläsern und geleerten Whiskyflaschen, all den gehobenen Röcken, lüsternen Händen und versteckten Andeutungen, all den Geschäften und Vorschlägen, den zahllosen unvermeidlichen Morden, den Lügen, den Diebstählen, den Alibis, den Drohungen – nach all diesem Alltagsgewirr, dem Getöse, das hämmernd und vibrierend in bestürzender Modulation zu anderen, fernen Akkorden überging, unmerklich von Akkord zu Akkord, von Note zu Note wechselnd, daß die Veränderung erst jetzt deutlich wurde, in diesem Moment, in dem alle Herbstblätter eines Parks vor einer Universität gleichzeitig zu Boden sanken, mit einem Rauschen, so ohrenzerreißend, daß es selbst den schalen Rhythmus des Alltags erstickte und sie vor einem Spiegel in Mailand erstarren ließ: zwei überlegene, intelligente, gebildete, erfahrene, erfolgreiche Amerikaner, die plötzlich begriffen, daß sie einmal zu oft bei Grün die Straße überquert hatten – das verdammte Spiel war vorbei, sie waren bankrott.
    »Wir
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