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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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mehr) – dann überquerte er die Hundertneunzehnte Straße und ging weiter, bis er fast an der Hundertsiebzehnten angelangt war. Schließlich blieb er stehen und hielt nach der Schneiderwerkstatt Ausschau. Er erwartete nicht, sie noch vorzufinden, aber er hoffte, daß zumindest die Fassade noch die gleiche war, hoffte, ob die Räume nun einen Delikatessenladen oder eine Schlachterei beherbergten, zumindest die Außenfront wieder zu erkennen. Hoffte, daß es das breite Schaufenster mit der Hängelampe noch gab und die Tür mit der Klinke, nach der er sich hatte recken müssen.
    Doch er erkannte keinen der Läden wieder; wie es schien, hatte sich alles verändert. Er stand auf dem Gehsteig und starrte die dunklen Läden an. Sein Kopfschmerz ließ nach, doch sein Sehvermögen war noch nicht wieder normal, und für einen Augenblick war ihm, als sähe er einen der Läden in sanfter Wärme erglühen, als tanzten für einen Augenblick Schneeflocken in der Luft, als hörte er das Klingeln der Glocke über der Ladentür, als hieße ihn eine vertraute Stimme willkommen: »Komm herein, du siehst wieder halb erfroren aus – Annie, mach ihm eine Tasse heiße Schokolade.« Er blinzelte mit den Augen, die Läden waren dunkel, blicklos in der Nacht.
    Er ging weiter.
    Als er die Musik hörte, glaubte er im ersten Moment, sein Gehirn spiele ihm einen grotesken Streich. Allmählich sah er die Dinge wieder klarer, doch nun, da die verschwommenen Zerrbilder verschwanden, schien es, als würden sie durch akustische Zerrbilder ersetzt. Doch als er sich der Hundertsechzehnten Straße näherte, begriff er, daß er tatsächlich Musik hörte; er folgte den Klängen, bog um die Ecke und ging auf die Bar in der Mitte des Straßenblocks zu. Neben der Bar war ein erleuchteter Eingang, von dem aus eine steile Treppe abwärts führte, und die Musik kam von irgendwo am Fuß der Treppe, als dränge sie zusammen mit dem Lichtschein aus dem Erdinnern hervor. Auf der Treppe stand ein Junge von ungefähr siebzehn Jahren im Smoking mit einem Mädchen in lachsfarbenem Kleid. Buddwing spähte neugierig die Treppe hinab, und der Junge lächelte herauf und fragte: »Wollen Sie noch zur Hochzeit?« Buddwing lächelte zurück und schwieg. »Beeilen Sie sich lieber«, sagte der Junge. »Von dem Bier und den Brötchen ist fast nichts mehr da.«
    Und plötzlich spürte er wütenden Hunger, nickte dem Jungen zu stieg die Treppe hinab. Das Mädchen im lachsfarbenen Kleid lächelte ihm zu, als er vorbeiging. Das Licht wurde heller, die Musik lauter; die enge, steile Treppe mündete in einen spiegelverkleideten Vorraum. Er erschrak nicht vor dem Mann, den er im Spiegel sah. Wer dieser Mann war, wußte er nicht, aber Gesicht und Figur waren ihm vertraut. Sie hatten sich nicht verändert, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte – früh am Morgen im … Oder war das gestern gewesen?
    War es schon morgen?
    Er drehte sich zur Treppe um. »Wissen Sie, wie spät es ist?« fragte er den Jungen im Smoking.
    »Kurz vor zwei«, sagte der Junge.
    »Danke«, erwiderte er und wandte sich wieder dem Spiegel zu. Seit gestern früh um sechs war er wach, nun war es heute früh um zwei, und der Mann im Spiegel sah sehr müde aus, vielleicht etwas älter, auf keinen Fall jedoch weiser. Betrübt lächelte er sich zu. Drinnen im Saal hatte die Kapelle mit einer munteren Tarantella eingesetzt. Er richtet seine Krawatte und betrat den hell erleuchteten Raum. Zuerst sah er sich nach dem Büfett um; sein Gefühl sagte ihm, daß ihn bald jemand als ungebetenen Gast entlarven und hinauswerfen würde – also mußte er sehen, daß er etwas zu essen bekam, bevor das geschah. Das Hochzeitsfest war noch immer voll im Gang; entfernte Vettern aus Red Bank tanzten ausgelassen mit Verwandten aus der Hundertvierzehnten Straße und der Second Avenue.
    »He Dominick!« rief jemand einem kahlköpfigen Mann zu, der ungestüm mit einer jungen Brünetten tanzte, »piano, piano! Ti viene una strucca !«
    » Una sincope , stupido !« erwiderte der Kahlköpfige lachend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Buddwing erspähte die Bar an der gegenüberliegenden Seite des Saales und ging hinüber. Der Mann hinter der Bar gehörte offensichtlich zur Familie oder zum engeren Freundeskreis; er trug ein Smokinghemd, die schwarze Schleife aufgeknüpft und vor der gestärkten Hemdbrust baumelnd, die Hemdsärmel hochgekrempelt, die Arme nass vom halbgeschmolzenen Eis der Kühltruhe. Sein Smoking-Jackett
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