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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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starb? Wie konnte man ihn mit einem Gesicht auf dem Dach des Mailänder Doms verwechseln? Wie kann Gott ein verrückter Alter sein, der mich von der Universität von New York zu verfolgen begann? Ist überhaupt jemand, was er zu sein scheint? Hat nicht jedermann seine Identität? Wie kann ich wissen, wer ich bin, wenn ich nicht weiß, wer die anderen sind? Daß ich nicht schreie, Grace – ist jetzt die rechte Zeit, mich im Stich zu lassen? Wo bist du nur? Hör zu, ich schreie gleich, Grace, ich schwöre es dir! Ich schreie Grace MacCauley, so laut ich kann; ich wecke die ganze Nachbarschaft. Aber sie ist nicht Grace MacCauley, sie ist schon lange nicht mehr Grace MacCauley. Esel, der du bist, sie ist es überhaupt nicht, weißt du das nicht? Weder Grace MacCauley noch Grace Wer-auch-immer. Sie ist eine jüdische Sozialfürsorgerin, die du auf dem Broadway angesprochen hast. Sie hat dich nach Schnaps geschickt, weil einige ihrer Freunde zu Besuch kamen. Wie spät ist es jetzt? Ob sie noch da sind? Komm, Grace, lass den Unsinn! Wo zum Teufel ist deine Wohnung?
    In heller Verzweiflung schaute er zu den erleuchteten Fenstern der Gebäude hinauf. Er sah tausend Fensterschlitze, die ihn prüfend anstarrten, er sah hinter einem der Fenster ein Mädchen, das sein Bett aufschüttelte, hinter einem anderen einen Mann, der den Kopf eines Hundes streichelte – Dan, dachte er, Dan MacCauley, natürlich. Versteht sich, so heißt er doch. Schließlich ist er ihr Bruder; also muß er Dan MacCauley heißen. Ich brauche ihn nur anzurufen, brauche ihn nur zu fragen, wo Grace …
    Nein. Nein, das werden wir nicht tun, nicht wahr? Nein, er würde uns nicht helfen. Er würde mir die Adresse nicht geben, selbst wenn er sie wüsste. Nein, ich werde ihn nicht anrufen. Davon abgesehen, ist auch er nicht, was er zu sein scheint – wie alle anderen. Er ist kein Mensch, er ist nicht jemand, der hilft, wenn man ihn braucht, er ist ein Hundemensch, dressiert, einem an die Kehle zu springen, nicht anders als die anderen Tiger; wie kann ein Dreckskerl wie er nur eine so süße Schwester haben? He, Grace, juhu, wo bist du? Juhu, Artur, hier bin ich, dachte er, schaute dann zu den Fenstern an der Third Avenue hinauf und empfand die gleiche schmerzliche Einsamkeit wie vorhin, als er an der Landungsbrücke die Fahrgäste von Bord gehen sah. Hinter jedem der bernsteinfarbenen Rechtecke schien das Leben zu pulsieren; die Frau, die sich, das Haar voll Lockenwickler, auf die Fensterbank stützte, der Mann, der am Fenster seine Zeitung las, das Mädchen, das sich die Bluse auszog und dann zu spät daran dachte, die Vorhänge zu schließen. Nein, dachte er. Lass den Vorhang offen! Sperr mich nicht aus! Ich möchte zurückkommen, zurück zu den Lebenden.
    Und dann verschwamm alles vor seinen Augen.
    Was bisher tausend bernsteinfarbene Schlitze gewesen waren, das waren jetzt zweitausend, und alle verwehrten ihm den Eintritt, weigerten sich, ihn zu erkennen. Kopfschüttelnd rannte er die Straße entlang und musterte jedes Fenster. Ihm war, als schlösse sich ein Vorhang nach dem anderen, als würde ein Leben nach dem anderen ausgelöscht, bis die Straße nur noch eine Wand voll glimmender, blinder Rechtecke war. Er stürzte in einen Eingang neben der Bäckerei, nur weil er vor dieser plötzlich feindlichen Wand glimmender, geblendeter Augen Zuflucht zu bieten schien. Auf dem unteren Flur waren hinter der Treppe Mülltonnen für die Nacht gestapelt. Auf eine von ihnen setzte er sich, keuchend, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte; sein Herz pochte. Der Flur, die Treppe, die düstere kahle Glühbirne zerflossen vor dem quälenden Schmerz, der in seinem Kopf tobte. Er griff in die Uhrtasche, holte die übrig gebliebene Gelatinekapsel heraus, steckte sie in den Mund und versuchte, sie ohne Wasser zu schlucken. Aber er brachte die Kapsel nicht hinunter, spie sie aus und saß dann hustend auf der Mülltonne, sicher, daß er sich übergeben würde. Doch der Hustenanfall ging vorüber. Sein Kopfschmerz, vom Husten verstärkt, wurde unerträglich. Er versuchte, die ausgespiene Kapsel, die kaum einen Meter von der Mülltonne entfernt auf dem Boden lag, zu fixieren, sah jedoch nur einen verschwommenen, formlosen Flecken auf dem Asphaltboden des Flurs. Er schloß die Augen. In der Düsternis seines Schädels flackerte das gelbe Licht.
    Er wußte nicht, wie lange er mit geschlossenen Augen auf der Mülltonne saß. Als er die Lider wieder hob, war sein Sehvermögen
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