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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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Cacciatore. Die Stadt war wie ausgestorben. Während des Essens hatten sie sich nur wenig zu sagen.
    Mitten in der Nacht wachte Grace schreiend auf.
    »Was ist?« rief er erschrocken.
    »Der Mann«, stammelte sie. »Der Mann.«
    Er nahm sie in die Arme und zog sie an sich. »Welcher Mann?« fragte er sanft.
    »Im Rollstuhl«, sagte sie. »Er sieht mir unter den Regenmantel.«
    »Ja, ja«, sagte er. »Versuch, weiterzuschlafen.«
    »Warum ließ er mich nicht?« sagte sie, drehte sich dann von ihm weg und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.
    Am Sonntag besichtigten sie die Kathedrale.
    Das Dach des Doms war ein Wald ineinander verschlungener Bögen und Schwebepfeiler, eine in Stein gehauene Wirrnis, deren Vielfalt das Auge herausforderte. Die Sonne glühte gefahrdrohend, Ofenhitze auf dem Dach; die Bögen des steinernen Fransenwerks warfen nur schmale Schatten, die keinen Schutz boten. Sie wanderten mit schweren Schritten über das Dach, als bewegten sie sich zwischen den klebrigen Fäden eines riesigen Spinnennetzes. Grace schaute über den Rand des Daches auf die Piazza hinunter und taumelte plötzlich in einem leichten Schwindelanfall gegen ihn; dann beschlossen sie, irgendwo eine kühle Bar zu suchen.
    An diesem Sonntag im vergangenen Sommer waren die Straßen von Mailand so gut wie leer. Dann und wann fuhr ein leerer Wagen vorbei; meist schien es, als wären sie allein, die Stadt schien stumm und leblos vor Hitze. In die Hochzeitsfeier gerieten sie durch Zufall; sie hörten Musik aus dem Hinterzimmer einer Trattoria und traten ein – nur um zu entdecken, daß es sich um eine geschlossene Gesellschaft handelte. Weil sie Amerikaner waren und weil die Hitze zwischen denen, die tollkühn genug waren, sie herauszufordern, eine Art verzweifelter Kameraderie entstehen ließ, wurden sie eingeladen, sich zu setzen und einen Drink zu nehmen. Der Brautvater war ein massiger schwitzender Mann in schwarzem Jackett und gestreifter Hose. Er erzählte ihnen, er habe einen Bruder in Los Angeles und betrachte ihren unerwarteten Einbruch in das Hochzeitsfest als äußerst glückliches Vorzeichen. »Un ottimo augurio«, sagte er. Er stellte sie seiner Tochter vor, einer strahlenden schwarzhaarigen Schönheit in weißseidenem Brautkleid, das unter den Ärmeln feuchte Schweißränder zeigte. Sie hing am Arm des Bräutigams, eines blassen, lächelnden jungen Mannes, der sich ständig Schweißperlen von der Stirn wischte.
    Sie waren so jung. Sie waren so ungeheuer jung; ihr Italienisch klang aufgeregt, sie verteilten Zuckermandeln unter den Gästen, stießen mit ihnen an, hörten die rauhen italienischen Flitterwochenspäße und lachten darüber voll optimistischer Zukunftspläne und funkelnder Jugendträume. Umgeben von Festlichkeit, saßen Buddwing und Grace im schmalen Garten der Trattoria. Sie beobachteten die Jungverheirateten, und eine unstillbare Trauer senkte sich über sie, eine Trauer, die sie erst später, ins Hotel zurückgekehrt, zu verstehen begannen.
    Die Klimaanlage tat ihren Dienst. Gelassen summend, füllte sie den Raum mit reiner, kühler Luft, immunisierte ihn gegen alle Einflüsse der Außenwelt, schuf ein steriles Innen, in dem sie einander gegenüberstehen, in dem sie einander sehen konnten.
    Sie hatten die Kleider abgelegt, Grace stand vor der Spiegelwand, und er trat neben sie. Sie betrachteten einander im Spiegel, und er sagte: »Eigentlich bist du doch recht klein«, und einen Moment lang antwortete sie nicht – sie starrte diesen Mann an, der sie immer für groß gehalten hatte, starrte den Mann im Spiegel an und erkannte ihn nicht. Dann überfiel sie beide gleichzeitig das Gefühl, daß der Spiegel log, daß die beiden Menschen, die sie musterten, nicht wirklich sie selbst waren, sondern nur verzerrte Bilder; sie wandten sich vom Spiegel weg, standen einander gegenüber, sahen sich an.
    Und dieser Moment mochte das Ende gewesen sein.
    Was bisher zwischen ihnen war, der dünne Hoffnungsfaden, der sie miteinander verbunden hatte, Erinnerungen an einen kleinen Park, ein überfülltes französisches Restaurant, an das halbdunkle Innere eines Wagens, an einen menschenleeren sonnigen Strand, an eine Trauung in einer riesigen steinernen Kirche, durchdröhnt von Orgel- und Geigenklang, zerstörte Träume, verfehlte Ziele, vergessene Jugend – alles das wurde in diesem Moment zu nichts.
    Sie starrten einander an wie Fremde.
    Erschreckt, überrascht starrten sie einander an, nackt voreinander und beschämt in
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