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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht
Autoren: Brigitte Melzer
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Prolog
    Die Dunkelheit umgab ihn wie ein Leichentuch. Nur dass er ein Leichentuch hätte packen und zur Seite reißen können. Diese Dunkelheit jedoch war starr und unnachgiebig. Die Wände seines Gefängnisses, dessen beklemmende Enge ihn in eine kauernde Haltung zwang, waren durchzogen von Silber und eingeritzten Schutzrunen. Verdammtes Metall! Es machte ihn wehrlos, behinderte den Fluss seiner Kräfte.
    Dabei waren die Wände, die ihn– keine Armlänge entfernt– umgaben, nicht einmal aus Stein, sondern lediglich aus Holz. Er saß in einer Kiste. Einem lächerlichen Ding, mit dem die Menschen Gegenstände in ihrer Welt umherschickten. Holz, organisches Material. Wie sehr wünschte er sich, es mit der Macht eines Gedankens in seine einzelnen Atome zu zerlegen. Dummerweise gehörte das nicht zu seinen Fähigkeiten. Ein Wesen wie er, befand er, sollte dazu in der Lage sein. Nichts und niemand sollte es vermögen, sich einem Geschöpf des Jenseits in den Weg zu stellen. Ganz sicher keine verfluchte Holzschachtel!
    Er hatte gelernt auszusehen wie sie, sich so zu benehmen und sich ihrer Welt anzupassen. Trotzdem hatte der Jäger hinter die Fassade des Teenagers geschaut, mit der er sich umgeben, in der er sich sogar wohlgefühlt hatte, und erkannt, was er wirklich war.
    Alles war gründlich schiefgegangen. Er hatte seine Mission in den Sand gesetzt und jetzt stand sein Leben auf dem Spiel. Er fürchtete nicht, dass ihn der Wächter töten würde, der ihn hier festgesetzt hatte. Es war sein Auftraggeber, der ihm Sorge bereitete. Dieser verstand keinen Spaß und hatte deutlich gemacht, welche Konsequenzen ein Versagen mit sich bringen würde. Anders als er selbst war sein Auftraggeber durchaus in der Lage, ihn in seine einzelnen Atome zu zerlegen.
    Sein Befehl war es gewesen, ein Druckmittel in seine Gewalt zu bringen. Statt sich jedoch unauffällig im Hintergrund zu halten, hatte er nach einem Ausweg gesucht. Dabei war er einem Jäger ins Netz gegangen und fast hatte es den Anschein, als wäre es nicht der Plan des Mannes gewesen, ihn an den Torwächter zu übergeben. Der Jäger hatte kurz gezögert, seinen Fang dann aber widerspruchslos übergeben, woraufhin der Wächter ihn in diesen Kasten gesteckt hatte.
    Warum war er überhaupt noch hier? Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit sich die Tür seines Gefängnisses über ihm geschlossen hatte.
    Von wegen Tür. Er schnaubte. Ein elender Deckel! Nenn die Dinge ruhig beim Namen. Du bist nichts weiter als Frachtgut, Caleridon!
    Während der ersten Stunden war er noch in der Lage gewesen, dem Fluss der Zeit zu folgen, dann aber hatte sich die Zeit verselbstständigt, hatte ein eigenes, der Finsternis angepasstes Tempo angenommen und plötzlich war es ihm nicht mehr möglich, zu sagen, wie lang er in diesem Loch festsaß. Seine Auslieferung hätte nicht länger als ein paar Stunden auf sich warten lassen sollen. Im schlimmsten Fall einen Tag. Seine Gefangenschaft jedoch dauerte nun schon bedeutend länger an, so viel war gewiss.
    Er hatte versucht, sich zu befreien. Hatte sich mit aller Macht gegen die Wände geworfen und, als das nichts half, seinen Geist nach jemandem außerhalb dieses Würfels ausgestreckt. Früher einmal wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, jemanden auf sich aufmerksam zu machen und dazu zu bringen, ihm zu Hilfe zu kommen. Doch er verfügte nicht länger über diese Gabe. Er hatte sie schon vor langer Zeit aufgegeben. Es war eine bewusste Entscheidung gewesen und bisher hatte es ihm nie etwas ausgemacht. Selbst heute bereute er nicht, was er getan hatte, auch wenn sich die Dinge anders entwickelt hatten als erhofft. Seine Kräfte hätten ihm ohnehin nichts geholfen, solange das Silber sie blockierte.
    Fähigkeiten hin oder her, er wollte sich nicht in sein Schicksal fügen, das würde er niemals tun. Auf keinen Fall konnte er hier sitzen und tatenlos darauf warten, dass man ihn der Gerichtsbarkeit jenseits der Pforten übergab. Nicht etwa der harten Strafe wegen, die ihn für den unerlaubten Grenzübertritt erwartete, sondern wegen seines Auftraggebers. Sobald dieser vom Scheitern seiner Mission erfuhr– und eine Überstellung an den Rat war ein eindeutiger Beweis für sein Versagen–, war sein Leben verwirkt. Ebenso verwirkt war es, wenn der Zeitraum verstrich, den man ihm für die Durchführung seines Auftrags eingeräumt hatte, ohne dass er einen Erfolg vorweisen konnte.
    Wenn er eine Chance haben wollte, mit heiler Haut
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