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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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JANUAR
    Die Glocken verstummten, und in der großen Stille begab sich die fröhliche Gesellschaft ans Fenster; man blickte in die verschneite Nacht hinaus und sann der verrinnenden Zeit nach. Dachte an seine Toten und ans Leben.
    Was erwarte ich mir denn noch vom Leben? – dachte ich, das Champagnerglas in der Hand. Leben, zeitlich unbegrenzt, wie die Zelle, deren Ehrgeiz und einzige Daseinsberechtigung das uneingeschränkte Sein ist? Nein, nach dem immerwährenden Leben sehne ich mich nicht mehr. Alles habe ich schon gekostet, den Tod und sämtliche Freuden probiert! Jetzt muss es schon der Sinn des Lebens sein. Und was wäre dieser Sinn? Die Jahre haben auch vor diesem Geheimnis den Schleier gelüftet: Eines Morgens bin ich aufgewacht, und mein Leben war erfüllt davon. Alles war nun einfacher, interessanter und hoffnungsloser. Der Sinn des Lebens ist die Wahrhaftigkeit. Jenseits allen Sinnens und Zweifelns, des Suchens und der Befriedigung, der Irrtümer und Trugbilder, der Erscheinungen und des Verfalls gibt es irgendeinen kollektiven Sinn, er strahlt und durchdringt alles. Diese Wahrhaftigkeit ist nicht kategorisch. Das Leben ist verstrichen, derweil ich mich nach etwas gesehnt und gehofft habe. Ich bin nur ein Mensch. Man hat Verschiedenes von mir erwartet: Liebe und Hass, Unmenschlichkeit und Menschlichkeit, und alle wollten sie alles. Doch das Leben wollte von mir nur das eine, Wahrhaftigkeit. Das ist meine Bestimmung. Schwer, dies zu erkennen, und schwerer noch, es zu ertragen. Aber vielleicht gibt es gar keine andere Möglichkeit, als im Zeichen der Wahrhaftigkeit zu leben. Fürwahr, diese Gewissheit lässt einen wie mit Dynamit beladen unter den Menschen wandeln. »Üben« kann man die Wahrhaftigkeit nicht, weil der Mensch das einfach nicht aushält. Aber fühlen kann man sie, schweigend, wie eine Ahnung von Gott: Das ist der Sinn des Lebens. Alles, was das Leben bietet, durch dieses eigentümliche, unbarmherzige Vergrößerungsglas betrachten, das Gott uns gab und für das die profane Bezeichnung Vernunft ist. Ich glaube an nichts anderes mehr, sehne mich auch nach sonst gar nichts als nach Wahrhaftigkeit der Vernunft. Alle wollten mich erniedrigen, mich vereinnahmen, die Menge und auch Einzelne, die Arbeit und die Frauen, der Tod und die Freuden. Aber es gibt über all diesem eine gewisse Freiheit, die man mir jetzt nicht mehr nehmen kann. Ich bin zu einer Art Reife gelangt. Reif fürs Leben? Oder für den Tod? Reif für die Wahrhaftigkeit bin ich, reif, gerüstet mit Vernunft, um den Angriff der Welt und des Todes durchzustehen. Wie interessant und einfach jetzt alles ist! Alles, was zuvor so wohlgefällig und verdächtig anziehend, auch ein wenig unheimlich und drohend war hinter dem Nebelschleier der Sehnsüchte, der Träume und albernen Hoffnungen. Die Zeit offenbarte mir, dass der Tod eines der imposanten Geschenke des Lebens ist, aber auch Antwort und Erklärung. Die Vernunft hat mich gelehrt, dass jede Befriedigung als Tribut an den Tod zu begreifen ist. Irgendeine sehr zarte Todesangst liegt jeder Freude zugrunde. Doch die Wahrhaftigkeit, die aus der Wahrnehmung und dem Traum, aus der Erfahrung und den Gedanken, aus Gedichten, Landschaften, aus der Musik und allen Gegenständen auf einmal zu mir zu sprechen begann, dieses wunderbare, kalt strahlende Licht, das feinste und grausamste Empfinden, hat das Leben zu einem kalten und heidnischen Fest verklärt. Schließ mich in deine Arme, Zeit, spül mich am Ufer der Unendlichkeit entlang. Ich fürchte mich vor deiner Umarmung nicht mehr; ich nehme sie offenen Auges, nicht beglückt, aber doch auch nicht unglücklich entgegen.

MIT DEM GEHEIMNIS LEBEN
    Mit einem Geheimnis leben wie Menschen vergangener Zeiten, die alles erzählten, niederschrieben oder gestanden, nur das eine nicht, das in ihrem Herzen brannte; leben wie einst die Dichter oder die Gardeoffiziere, die sich wegen eines Missverständnisses duellierten, diesen einen Namen aber nicht einmal auf der Folterbank preisgaben – und Folterbänke gibt es viele! –, leben mit einem Siegel auf Herz und Mund, zum Himmel aufschauen, über alles reden, nur über das eine schweigen, bis in den Tod. Schweigen, wie Puschkin es tat. Ein Gedicht, einen Roman darüber schreiben? Ja. Sich der Psychoanalyse anvertrauen? Niemals.
    DEM SCHICKSAL ENTGEGEN
    Oh, die Schwachköpfe, die nicht ans Schicksal glauben! Sie wissen nicht, dass jeder Vorsatz, jegliche Kabale und Kniffe vergeblich sind, eines Abends im
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