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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom
Autoren: Martin Keune
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FORD A, ROT
    Halb acht abends. Von der Marienkirche klangen zwei Glockenschläge durch das Verkehrsgetöse herüber; höchste Zeit, endlich Feierabend zu machen und zu sehen, dass er raus in die Stadt kam.
    Zwischen Sándor Lehmanns etwas zu eleganten schwarzen Schuhen und der Sandsteintreppe knirschte der Split der Straße, als er die breite Treppe hinunter zum Ausgang ging. Er drückte sich an das schwere Geländer, um eine schimpfende Gruppe von Menschen vorbeizulassen, die nach oben wollten: Lehmanns Kollegen von der Nachtschicht schleppten ein paar Randalierer in die Vernehmungsräume; die Spätschicht fing ganz offensichtlich gleich mit Hektik an.
    Sándor nickte den Kollegen zu und streifte die Festgenommenen mit einem kurzen Blick. Das sah nach Politik aus; die Streithähne wären am liebsten noch hier auf der Treppe mit Fäusten und Zähnen aufeinander losgegangen und mussten mit Gewalt daran gehindert werden. Der Polizeipräsident hatte vor ein paar Tagen mal wieder den
Angriff
verboten, doch die Nazis verkauften ihr Radau-Blatt trotzdem und bekamen sich natürlich prompt mit den Roten in die Haare. Die Prügelei hatte sich die halbe Friedrichstraße hinuntergezogen, bis Lehmanns Kollegen den ganzen Pulk en bloc in die grüne Minna gezerrt und ins Revier am Alexanderplatz verfrachtet hatten, erläuterte ihm Kollege Hansen, außer Atem von dem Gerangel. Jetzt musste sortiert werden, wer in welche Zelle kam. Da durfte man keine Fehler machen, sonst gab es Hackfleisch hinter Gittern. Aber die Jungs von der Nachtschicht – Lehmann erkannte neben Hansen Schmitzke und den dicken Plötz – hatten das Ding im Griff, da war er sicher. Es war ja nicht das erste Mal. Die Zeitungsverkäufer und die Kommunisten kriegten unten in den Vernehmungsräumen im Keller ihre Abreibung – und morgen waren für jeden blauen Fleck und jeden verlorenen Schneidezahn drei neue von diesen Burschen auf der Straße im Einsatz. Eigentlich sollten wir Kriminalbeamten uns ja um die Klassiker des menschlichen Zusammenlebens kümmern, dachte Lehmann, um Mord und Totschlag, um Nutten, Hehler und Banditen. Stattdessen hielt sie rund um die Uhr die Politik auf Trab.
    Die Politik! Er selbst hatte aufgehört, an die Politik zu glauben, vor Langem schon. 14/18 hatten sie ihm die Politik ausgetrieben; im Schützengraben gab es keine Weltanschauung, da war man kein Monarchist oder Demokrat oder was auch immer. Da war man ein armes Würstchen mit vollgeschissenen Hosen, und man schwor sich: Wenn ich hier rauskomme, hole ich alles nach, was ich an Leben verpasst habe. Um jeden Preis.
    Sándor Lehmann hatte nicht viel geschworen im Leben – den Fahneneid, den Polizisteneid und sicherlich ein paarmal die ewige Treue –, aber den Eid im Schützengraben, den hatte er gehalten. Nichts mehr verpassen im Leben. Nichts auf die Zukunft verschieben, auf irgendein gerechtes bolschewistisches Paradies oder das großdeutsche Arierland der besoffenen Herrenmenschen, die mit dem Hitlergruß aus den Bierkellern gekrochen kamen, sondern jetzt sofort loslegen mit dem Leben.
    Loslegen – das war natürlich leicht gesagt für einen einundzwanzigjährigen Habenichts aus dem Wedding. Für einen, der im Arbeiter-Schalmeienorchester die Klarinette geblasen hatte, die erste Zigarre geraucht mit zwölf, das erste nackte Mädchen gesehen als Spätzünder mit fünfzehn. Der sonst noch nichts erlebt hatte, als der Krieg kam.
    Und nach dem Krieg war das große Leben auch erst mal ein gutes Stück Arbeit. Ohne Geld war die süße Sause, die Sándor Lehmann vorgeschwebt hatte, wirklich verdammt viel Arbeit.
    Immerhin war schnell klar gewesen, wie man als Habenichts wenigstens in Sichtweite des großen Lebens kommen konnte: bei der Polizei. Natürlich hatte die Schmiere bei Lehmann und seinen Weddinger Jungs keinen sonderlich exzellenten Ruf. Wer ihm mit zwölf prophezeit hätte, dass er mal Bulle würde, hätte gleich in die Fresse gekriegt – aber waren diese ganze Weddinger Kumpanen-Duselei, diese gesalbte Arbeiterklassensülze nicht auch nur Politik, bei der man selbst als Einzelner nur auf der Strecke bleiben konnte? Sándor Lehmann wollte nicht auf der Strecke bleiben, ums Verrecken wollte er das nicht, und schon in seinen ersten Jahren als kleiner Schupo hatte er mehr Regierungsgebäude, Bankfilialen und Protzvillen im Westend von innen
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