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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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interessant. Ich will keine Liebe von siebzig Grad mehr schenken und auch nicht bekommen, begnüge mich mit der Zärtlichkeit.
    Im letzten Jahr las ich ein Buch über das Leben in der Tiefsee und erfuhr Neues über die Welt. Auch einige Dutzend Romane habe ich gelesen, sie sagten mir nichts Neues. In Ausübung seines Metiers stumpft der Mensch etwas ab. Sieht manchmal nur noch Sätze und Attribute statt Gefühle und Wahrheiten. Man müsste das Stottern erlernen. Oft ist Stottern mehr als natürlicher Redefluss. Ein Schriftsteller, der nur noch gute Sätze zu Papier bringen kann, ist irgendwie unmoralisch.
    Die Damen trugen hochgezogene Hüte. In Spanien tobte der Bürgerkrieg. Einer meiner Freunde, von dem es auf der Welt nur ein einziges Exemplar gab, ist gestorben. Ein Vermögen habe ich im letzten Jahr nicht gemacht, auch keine Schulden. Habe nur etwas weniger verdient, als ich benötigt hätte, um dem Leben auch ein wenig Farbe und Freundlichkeit zu geben.
    Es war nicht historisch, dieses Jahr, eher bürgerlich, ohne besondere Freuden und Tragödien. Ich verabschiede mich von ihm ohne innere Ergriffenheit und habe das Gefühl, dass ich ihm noch nachweinen werde.
    JOD
    Jetzt wohne ich hoch oben am Berg, und überall ringsum feiert man, wie ein historisches Ereignis, den Winter. Bei Morgengrauen um fünf erwache ich und schaue in den schwarzen Nebel. Die Lichter unten in der Stadt flackern bei Tagesanbruch nur noch kraftlos, als wären sämtliche Absichten und Kräfte erloschen.
    Ich merke, dass der Kratzer, diese harmlose Abschürfung, derentwegen ich heraufgekommen bin auf den Berg, ein klein wenig – einen Millimeter – tiefer ist, als ich geglaubt habe. Sie wird verschorfen. Mit dem Nebel, dieser weichweißen Gaze, will ich sie polstern. Und das Blattwerk hat die Farbe von Jod.
    VERLUST
    Gelegentlich bleibe ich auf der Straße stehen, greife in die Tasche, mir ist, als hätte ich etwas verloren. Daheim ziehe ich die Schubladen auf, lese Briefe, durchstöbere die Taschen alter Kleidungsstücke. Ein andermal ertappe ich mich dabei, dass ich Menschen anrufe, sie unter einem Vorwand ausfrage und über etwas anderes rede. Irgendetwas habe ich verloren.
    Wache nachts gegen drei auf, und plötzlich begreife ich: Das Träumen habe ich verloren! Nicht das nächtliche Träumen, dieses Nebenprodukt des Schlafes, diese kunterbunten süßen Ungereimtheiten, die sich aus den Abfällen des Tages, aus dem Dunst meiner verschütteten Sehnsüchte zu konfusen Erscheinungen verdichten. Vielmehr die traumhafte Empfindung, dass jenseits der Wirklichkeit ein Sinn existiert, den man nicht in Worte kleiden kann. Was war das für ein Träumen? Warum tut es so weh, dass es entschwunden ist? Warum suche ich danach? War es die Jugend? Ich weiß es nicht.
    Ich weiß nur, dass ich beraubt worden bin.
    EGER
    Nach Eger* kam ich gegen Abend und sah sofort, dass es eine Stadt war; keine wie Budapest oder Berlin, eine echtere; eine Stadt wie Chartres, Késmárk* oder Nürnberg. Als ich an der Basilika vorbeikam, waren bereits die Laternen angezündet; die Seitengässchen belebten sich mit blauen und braunen Schatten. Allerlei Priestervolk spazierte ziellos umher. In den Ladengewölben, ihre Mauern waren außen mit gelber Ölfarbe bepinselt, saßen Handschuhmacher und Apotheker in dieser eigenartigen Heimlichkeit, wie Kaufleute eben nur in echten Städten zu sitzen pflegen, sie, die vorsichtige Anhänger der Freiheit sind und in der Wintersaison im Kasino literarische Abende veranstalten. In der Stadt wurden ständig die Glocken geläutet. Beim Haus des Propstes stand eine junge Frau vor dem ewigen Licht mit gefalteten Händen und betete; in Eger beten die Menschen noch in natürlicher Haltung, auch auf öffentlichen Plätzen.
    Am Abend ging ich ins Kino. Der Billeteur hatte türkisch geschnittene Augen.
    DUZEN
    Es sind jene enthusiastischen Augenblicke, wenn der Mensch plötzlich ohne Übergang die Welt in aller Zärtlichkeit zu duzen beginnt, um dann verwirrt festzustellen, wie die Welt, mit steifem Hut auf dem Haupt, blinzelnd über die Schulter nach hinten blickt und näselnd bemerkt: »Pardon? Ach, Sie sind es? Sehr erfreut.«
    GEGENREFORMATION
    Der bürgerliche Schriftsteller lebt heute im Zeitalter der Gegenreformation. Inquisitoren verhören ihn, verlangen aktenmäßig ein Geständnis von ihm, wollen etwas von ihm hören, was so zart und unartikulierbar ist, dass man es nicht einmal auf der Folterbank oder auf dem Schafott genau benennen
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