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Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Titel: Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
Autoren: Arnaldur Indriðason
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    María hatte bei der Beerdigung völlig abwesend gewirkt. Wie betäubt saß sie in der ersten Reihe, Baldvins Hand fest umklammmernd, und sie schien sich weder über den Anlass der Zusammenkunft noch die Umgebung bewusst zu sein. Die Ansprache des Pfarrers, die Leute, die zur Beerdigung erschienen waren, und der Gesang des kleinen Chorensembles, alles verschmolz zu einem einzigen Klang der Trauer. Der Pfarrer war zu ihnen nach Hause gekommen und hatte sich einige Punkte notiert, deshalb kannte sie den Inhalt seiner Rede. Es ging vor allem um Leonóras wissenschaftliche Karriere und die Tapferkeit, mit der sie den Kampf gegen die schlimme Krankheit aufnahm, um die vielen Freunde, die sie im Laufe ihres Lebens um sich geschart hatte, um sie selbst und um ihre einzige Tochter, die in gewisser Weise in die Fußstapfen der Mutter getreten war. Der Pfarrer erwähnte auch die herausragenden fachlichen Qualifikationen Leonóras und ihr Bedürfnis, Freundschaften zu pflegen, was man nicht zuletzt daran sehen konnte, dass so viele Menschen an diesem tristen Herbsttag zur Beerdigung gekommen waren. Die meisten von ihnen waren Akademiker. Leonóra hatte manchmal mit María darüber gesprochen, wie viel es ihr bedeutete, zu den gebildeten Kreisen zu gehören. In ihren Worten schwang dabei stets ein Anflug von Arroganz mit, was María aber geflissentlich überhörte.
    Sie erinnerte sich an das herbstlich gefärbte Laub auf dem Friedhof und die gefrorenen Pfützen auf dem Kiesweg zum Grab und an das scharfe Knirschen, als das dünne Eis unter den Füßen der Sargträger brach. Sie erinnerte sich an die Kälte und das Kreuzzeichen, das sie über den Sarg ihrer Mutter schlug. Sie hatte sich bereits unzählige Male genau diese Situation ausgemalt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Krankheit ihrer Mutter zum Tode führen würde, und nun war diese Stunde gekommen. Sie starrte auf den Sarg im Grab und verrichtete im Stillen ein kurzes Gebet, bevor sie mit ausgestreckter Hand ein Kreuzzeichen machte. Danach stand sie regungslos am Rande des Grabs, bis Baldvin sie wegführte.
    Sie erinnerte sich an all die Leute hinterher beim Leichenschmaus, die zu ihr kamen und ihr Beileid ausdrückten. Einige boten ihre Unterstützung an, falls es etwas gäbe, womit sie helfen könnten.
    An den See dachte sie erst, als wieder Ruhe eingekehrt war und sie bis tief in die Nacht hinein wach lag, ganz allein mit sich selbst und ihren Gedanken. Erst jetzt, als alles vorüber war und sie den schweren Tag noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen ließ, fiel ihr auf, dass ihre Verwandten väterlicherseits nicht zur Beerdigung erschienen waren.

Eins
    Kurz nach Mitternacht ging bei der Notrufzentrale eine Meldung von einem Mobiltelefon ein. Eine aufgeregt klingende weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung sagte:
    »Sie hat sich … María hat sich umgebracht … Ich … Das ist grauenvoll … Grauenvoll!«
    »Wie ist dein Name?«
    »Ka… Karen.«
    »Von wo aus rufst du an?«, fragte der Diensthabende beim Notruf.
    »Ich bin im … Das ist … ihr Ferienhaus.«
    »Und wo ist das?«
    »… Am See von Þingvellir. In … in ihrem Ferienhaus. Beeilt euch … Ich … ich warte hier.«
    Karen hatte ihre liebe Mühe und Not gehabt, das Haus zu finden. Es war so lange her, dass sie zuletzt dort gewesen war, beinahe vier Jahre. María hatte ihr zwar sicherheitshalber den Weg dorthin genau beschrieben, aber ihre Erklärungen waren Karen mehr oder weniger zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgegangen; sie glaubte, sich an den Weg dorthin ganz gut erinnern zu können.
    Als sie Reykjavík abends um kurz nach acht verließ, war es stockfinster. Auf der Straße über die Mosfellsheiði war wenig Verkehr, nur die Scheinwerfer von ein paar Autos, die auf dem Weg in die Stadt waren, leuchteten ihr entgegen. Ein einziges Auto fuhr in dieselbe Richtung wie sie; sie hielt sich an die roten Rücklichter und war froh, dass noch jemand außer ihr unterwegs war. Sie fuhr ungern allein im Dunkeln und hätte sich liebend gerne früher auf den Weg gemacht, war jedoch aufgehalten worden. Sie arbeitete als pr -Referentin bei einer großen Bank, und die Besprechungen und Telefongespräche hatten an diesem Tag kein Ende nehmen wollen.
    Sie wusste, dass Grímannsfell zu ihrer Rechten lag, obwohl sie den Berg nicht sehen konnte, und Skálafell zu ihrer Linken. Sie passierte die Abzweigung, an der die Straße nach Vindáshlíð, dem Ferienheim
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