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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht
Autoren: Louis Begley
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Kindern dieses herrliche Oktoberwetter ausgenutzt. Unter der Aufsicht von Müttern, Kindermädchen oder pensionierten Großvätern, die alle dicht hinter ihren Schutzbefohlenen stünden, auf dem Sprung, ein Kind, das sich zu weit aufs Wasser hinauslehnte, zurückzuholen, würden sie ihre Modellsegel- und Motorboote starten lassen. Vor langer Zeit hatte er davon geträumt, mit einem Enkelkind und dem schicken Segelboot, das ein Geschenk von Opa Schmidtie wäre, an einen See im Central Park zu gehen. Jetzt konnte er bestenfalls hoffen, die Enkelkinder anderer Leute zu beobachten. Falls er am Sonntag noch da war und das Wetter gut blieb, würde er viele Kinder an bassins sehen können, hier oder im Jardin du Luxembourg, Kinder beim Pony- oder Eselreiten, am Rundlauf, wo sie am Messingring schaukelten, oder auf dem bemerkenswert gut bestückten Spielplatz, für den Eintrittsgelder verlangt wurden. Diese Praxis fand Schmidt immer noch schockierend. Daß man bezahlen mußte, um in einem öffentlichen Park spielen zu dürfen! Wenn die Kinder Großeltern hatten, die sich mitten in einer Finanzkrise, die sich zu einer zweiten Weltwirtschaftskrise ausweiten konnte, noch reich fühlten, dann gingen sie vielleicht auch zu dem unverschämt teuren Aquarium am Trocadéro. Am Vortag hatte der Dow Jones mit rund 8500 Punkten geschlossen, ein bedrückender Stand, wenn man bedachte, daß er früher im Jahr über 14 000 Punkte erreicht hatte. Nicht, daß Schmidt besorgt gewesen wäre. Er hatte noch mehr als genug Geld. Nein, die Frage, wie Mr. Mansour gern gesagt hatte, bevor Schmidts Elend so unübersehbar geworden war, daß eine derartige Erkundigung grausam gewesen wäre, die Frage war: Wofür oder mit wem konnte Schmidt sein Geld ausgeben? Hatte er ein Leben oder nur einen Nachlaßplan? Die Antworten auf diese offenen Fragen hingen von Alice ab. Alice, die mit dem feministischen Fossil, sicher einer Verbündeten von Serge, ratsuchend beim Mittagessen saß; Alice in ihrem Büro, wo bestimmt alles an Serge erinnerte, wahrscheinlich hatte sie sogar sein Foto auf dem Schreibtisch stehen; Alice, die daran dachte, wie Schmidt sie in London gedemütigt hatte.
    Die Modellboote im Wasser, etwa ein Dutzend, wurden alle von bejahrten Typen gelenkt, die sich über ihre Schaltpulte beugten – nach Schmidts Einschätzung waren sie pensionierte Postbeamte, Händler und Cafébesitzer, falls es Cafébesitzer gab, die ihren Ruhestand nicht in ihren Heimatdörfern in der Auvergne verbrachten. Eine Regatta fand statt, der eine böige Brise zusätzliche Spannung verlieh. Das führende Boot rauschte vor dem Wind und mit Segeln in Schmetterlingsstellung einer fiktiven Boje entgegen, deren Position die Teilnehmer in mysteriöser Übereinkunft festgelegt hatten, umrundete die unsichtbare Markierung, wendete geräuschvoll und segelte dicht am Wind auf Backbordkurs weiter. Augenblicke danach erreichten auch die anderen Boote das Markierungszeichen, und die ganze Armada steuerte auf das ferne Ufer zu. Sie hatten noch eine lange Strecke vor sich, und Schmidts Interesse an dem Rennen ließ nach. Der Nachmittag war mild, aber er fröstelte. Den Grund dafür kannte er: Nerven und Müdigkeit. Er hätte einen Pullover unter seinem schweren Tweedjackett anziehen sollen.
    Geschehenes kann man nicht ungeschehen machen; niemand kann das. Zum Beispiel: In diesem Augenblick passierte das führende Boot die nächste Boje und segelte zu hart am Wind. Das Boot stand, das Großsegel flatterte hilflos, kostbare Sekunden gingen verloren, die nach Schmidts Meinung nicht wieder aufzuholen waren. Sein restliches Interesse an dem Bootsrennen schwand. Plötzlich schloß er aus dem Fehler des Seglers, daß der Schaden, den er in London angerichtet hatte, ebensowenig wiedergutzumachen sei. Daß er nach Paris gekommen war, um seine Sache zu verfechten, war Wahnsinn. Ein Fiasko und der Beginn eines neuen Kreislaufs von Kummer und Reue würden der Lohn dafür sein.
    Sein Handy steckte in seiner Jackentasche. Er prüfte es und zuckte die Achseln: Es war angeschaltet und die Batterie aufgeladen. Alice saß noch im Beichtstuhl beim Lunch mit der feministischen Gewissensdirektorin. Auf dem vertrauten Weg zu Alices Wohnung verließ er die Tuilerien durch einen Seiteneingang und lief auf der Rue de Rivoli bis zur grauen Öde der Place de la Concorde. Im Schaufenster von Hilditch & Key, vor dem er wegen der ausgestellten Oberhemden und Krawatten zu Sonderpreisen stehenblieb, sah er sein
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