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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht
Autoren: Louis Begley
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Spiegelbild und war entsetzt. Rote Nase, blutunterlaufene Augen, die Lippen fest zusammengepreßt, um die Schande der fleckigen, unregelmäßigen Zähne zu verdecken, ein derart düsterer, kummervoller Gesichtsausdruck, daß seine Bemühung um ein Lächeln vergeblich war. Die Gesichtszüge ließen sich nicht ändern; die Mundwinkel blieben nach unten gezogen. Sein Haarschopf, einst rot und jetzt ausgeblichen und mit Grau durchzogen, stand vom Kopf ab und bauschte sich über den Ohren. Er wußte, wie er aussah: wie der Mann, der nach Aas stinkende Stadtstreicher, der verkommene Chemielehrer Mr. Wilson, der die vierzehnjährige Carrie entjungfert hatte und verdorben hätte, wäre sie weniger charakterstark gewesen! Er hatte Mr. Wilson im Nebel auf einer Straße in Bridgehampton überfahren und getötet. Und jetzt war er zum Ebenbild des Mannes geworden!Er war Mr. Wilsons Zwilling. Dem Mann in Elend und Schande gleich!
    Sollte er davonlaufen, Paris verlassen, ohne Alice wiederzusehen? Das Handy ausschalten, das Telefon im Appartement klingeln lassen, ohne sich zu melden, weglaufen, bevor sie ihm eine Anhörung gewähren oder verweigern konnte? Er konnte seinen Kram zusammenpacken, nach Roissy fahren, und sich von einem beliebigen Flugzeug an fast jeden beliebigen Ort auf der Welt bringen lassen. Wofür waren ein amerikanischer Paß und eine Menge Geld gut, wenn nicht für genau diesen Ausweg? Sobald er dann an dem beliebigen Ort angekommen war, würde er sich hinsetzen und nachdenken und ihr eine Postkarte schicken, falls er eine fand, die ihm gefiel. Schließlich ändern Leute ihre Pläne immerfort und von einem Augenblick zum anderen. Hatte Alice das nicht gerade getan? Er hatte noch nie jemanden versetzt, aber war das ein Hinderungsgrund? Alice würde nicht schockiert oder enttäuscht sein. Erleichtert wäre sie, ihr Verdacht, daß er ein Schuft war, hätte sich voll und ganz bestätigt. Ein kindischer Gedanke ging ihm durch den Kopf: Carrie anrufen und sie fragen, was er machen solle. Aber selbst er, begriffsstutzig vor lauter Panik wie er war, wußte, daß das eine Dummheit wäre.
    Überhaupt war es ein absurder Einfall wegzulaufen. Nachdenken mußte er, aber denken konnte er auch auf der Stelle, hier in Paris, und schnell mußte es gehen, bevor es zu spät war. Der erste Punkt auf der Tagesordnung: Haare bürsten und dann Gesicht und Hände mit richtig heißem Wasser waschen. Etwas Warmes zu trinken würde auch helfen, ein Grog oder vielleicht sogar eine Tasse heiße Schokolade. Logisch wäre es gewesen, in ein Taxi zu springen – wenn er ein Stück zurückging, konnte er am Stand in der Rue de Castiglione eines finden – und nach Hause zu fahren. Aber was hatte Logik mit seinerStimmung zu tun? Hier war er in Alices Wohngegend, diesen Umstand fand er tröstlich und angemessen, passend zu seinem Status als ein um Vergebung bittender Pilger. Außerdem wußte er nicht, ob er den Anblick seines unausgepackten Koffers, der erbarmungslosen Eleganz seines Appartements, der guten Möbelstücke, der prunkvollen Samtvorhänge an den Fenstern, des schimmernden Parketts ertragen konnte. Die Bedürfnisse, die er jetzt hatte, ließen sich genausogut im Hotel Meurice befriedigen, das nur drei Querstraßen entfernt war, wenn er die Rue de Rivoli in umgekehrter Richtung ging. Er hatte niemals dort gewohnt, aber da es im Krieg als Hauptquartier für die Wehrmacht gut genug gewesen war, würde es ihm wahrscheinlich als Bedürfnisanstalt auch genügen. Das alte Continental war näher, aber in seiner Einschätzung déclassé , da von einer Hotelkette aus dem mittleren Westen aufgekauft und umgetauft; wahrscheinlich müßte er sich dort im Waschraum mit Papierhandtüchern begnügen. Er stand schon vor dem Meurice, als ihm etwas einfiel. Augentropfen! Halfen Murine- oder Visinetropfen gegen Rötungen? Er ging wieder zurück. Die englische Apotheke zwischen den beiden ersten Querstraßen der Rue de Castiglione hatte beide Medikamente, und er kaufte je ein Fläschchen. Seine Stimmung hob sich.
    Die Toiletten im Meurice enttäuschten ihn ebenfalls nicht: riesige Spiegel und gedämpfte, schmeichelhafte Deckenbeleuchtung. Er erledigte das dringendste Geschäft und sah sich dann sein Gesicht genauer an. Die Runzeln, die sein gewohnheitsmäßig mürrischer Ausdruck eingezeichnet hatte, waren, was sie waren, er würde kein Geld ausgeben, um sie glätten zu lassen. Und würde ihn ohne sie überhaupt noch jemand erkennen? Das gleiche galt für
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