Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht
Autoren: Louis Begley
Vom Netzwerk:
anrichten?
    Es würde mich aus der Fassung bringen. Ich bin schon traurig genug. Ich sehe nicht ein, warum ich dir die Chance geben soll, alles noch schlimmer zu machen.
    Er hörte, daß sie ein Schluchzen unterdrückte.
    Alice, trau mir doch, bitte! Ich würde dich nicht aus der Fassung bringen. Wenn du dich weigerst, mich zu sehen, tust du dir und mir unrecht. Bitte, überschlaf es oder nimm dir mehr Zeit zum Nachdenken – aber nicht zu lange, bitte! Wann darf ich dich wieder anrufen?
    Also gut, sagte sie. Morgen, etwas früher als heute. Ruf mich um acht an. Wiedersehen.
    Das wäre zwei Uhr nachmittags für Schmidt. Um diese Zeit war er in New York; das traf sich gut, weil die Arbeit ihn ablenken würde, so daß er nicht ständig an den Anrufdenken mußte, der ihm bevorstand. Er aß in der Cafeteria ein Sandwich, wünschte, er würde noch rauchen, und saß um Viertel vor zwei mit einem dreifachen Espresso macchiato wieder am Schreibtisch. Sie nahm den Hörer beim ersten Klingeln ab.
    Liebe Alice, bitte gib mir eine positive Antwort, sagte er.
    Eine positive Antwort gibt es nicht. Jedenfalls weiß ich nicht, wie sie aussehen sollte. Wenn du wirklich nach Paris kommst, kann ich wohl am Abend mit dir essen gehen. Wann kommst du?
    Übermorgen, sagte er, am Donnerstag. Das ist der 14. Oktober.
    Sehr gut. Ruf mich im Büro an.
    Fast zwölf Uhr mittags, als das Flugzeug landete. Während es ausrollte, wartete er ungeduldig – er konnte sich kaum beherrschen – auf die Ansage, daß Mobiltelefone benutzt werden dürften. Wenn es noch viel länger dauerte, würde sie zum Essen gehen, und wer weiß, wann sie wiederkam. Er war ein Idiot gewesen, daß er nicht mit ihr verabredet hatte, wo und wann sie sich zum Dinner treffen würden. Endlich! Sie nahm sofort ab; er mußte nicht erst mit der Sekretärin sprechen. Alice, wir sind gerade gelandet. Ich sitze noch im Flugzeug. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen, ich bin so froh, daß es in ein paar Stunden so weit ist!
    Wohnst du in diesem Hotel? fragte sie.
    Nein, in einem Appartement an der Place du Palais Bourbon, das die Stiftung gemietet hat.
    Welche Telefonnummer hast du dort?
    Er diktierte sie ihr langsam und dann auch seine Handynummer und bat sie, ihm beide vorzulesen, und wenn sie anriefe, zuerst die Festnetznummer zu wählen.
    Weißt du, Schmidtie, du hast mich unter Druck gesetzt.Ich bin überhaupt nicht sicher, ob es eine gute Idee war, daß ich dir nachgegeben habe. Ich gehe mit einer Freundin, deren Rat ich traue, zum Lunch. Wenn ich nach dem Gespräch mit ihr beschließe, dich wiederzusehen, rufe ich dich an. Sonst nicht. Bitte keine Einwände. Im schlimmsten Fall wirst du irgendwo allein ein sehr gutes Dinner essen. Ich hatte lange Zeit nicht mehr an dich gedacht, und jetzt, da du mich daran erinnert hast, daß es dich noch gibt, bin ich wütend.
    Sie legte den Hörer auf.
    Irgendwie kam er aus dem Flugzeug heraus, sammelte seinen Koffer ein und nahm ein Taxi zu seinem Appartement. Würde sie anrufen? Die Chancen dafür standen etwas besser als 50:50, meinte er. Aber die Vorstellung, daß irgendeine alte Schachtel, die in Alices Verlag arbeitete, über sein Schicksal entschied! Wahrscheinlich nicht Claude, die Frau des pénaliste , in deren Haus in St. Cloud sie zu Schmidts großem Kummer die Party mit Übernachtung gefeiert hatte. Wenn sie die vertrauenswürdige, ratspendende Freundin wäre, hätte Alice ihren Namen doch wohl genannt? Es mußte eine andere Vertraute sein, und auch wenn sie Französin war, kannte er die Sorte in- und auswendig. Als Mary noch lebte, hatte er etliche von diesen Damen gesehen, sie waren mittags oder abends zum Essen gekommen oder auf einen Drink oder Gott weiß warum. Verwitwet, geschieden oder lesbisch und allesamt aus dem einen oder anderen Grund ewig sauer auf die Männer. Brrr. Er mußte an die Luft, damit ihm der Kopf nicht platzte. Da die Chancen, daß sie nachmittags in sein Appartement kam, gleich null waren, hatte das Auspacken Zeit.
    Hinter ein paar sehr hohen Wolken war die Sonne hervorgekommen. Mit schnellen Schritten überquerte er den Platz und dann den Pont de la Concorde über die Seine. Er wußte, wohin er ging. Zu der Stelle in den Tuilerien, wodas, wie er jetzt wußte, letzte Kapitel seines Lebens begonnen hatte, seine unter Alices Zeichen stehende Wiedergeburt. Am bassin fand er einen grünen Klappstuhl aus Eisen. Mittwochs war immer schulfrei, deshalb hätten an einem Mittwoch nachmittag Scharen von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher