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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht
Autoren: Louis Begley
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Hätte er sich gewünscht, daß Riker in dem Turm, in dem früher sein Büro gewesen war, erstickt oder verbrannt wäre, hätte er um seinen Verstand fürchten müssen. Eins kommt zum anderen. Myron Riker war wie aus dem Nichts auf Charlottes Beerdigung aufgetaucht, hatte sich zu den wenigen anderen Trauernden gestellt: den Blackmans, Mike Mansour, Caroline Canning (ohne Joe), Jason und Carrie und Bryan. Er habe von dem Unfall gelesen, sagte Myron, murmelte ein paar Worte des Beileids und verschwand dann, statt den anderen zu Schmidts Wohnung zu folgen und mit ihnen beim Leichenschmaus zu sitzen. Ein paar Tage nachdem er, Mike und Caroline wieder auf die Insel zurückgekommen waren, erinnerte sich Schmidt an Myrons Geste. Die Nummer seines Mobiltelefons hatte er noch. Er rief Myron an und erzählte ihm, daß er Jons Adresse im Telefonbuch nachgesehen habe. Ja, sagte Myron, danke, sie sinderst vor einem Jahr umgezogen. Sonst, wenn man bedenkt, daß Jon gewöhnlich vor acht Uhr schon im Büro ist … er brachte den Satz nicht zu Ende.
    Sein Kummer um Charlotte, die verzweifelte Wut, die wie ein einziger Schrei gewesen war, verwandelte sich allmählich in ein Erinnerungsritual. Wenn er zu Hause war, sah er sich die Alben an, in denen Mary Fotos aus Charlottes Kinderzeit und früher Jugend zusammengestellt hatte, und dachte immer wieder über die Ereignisse nach, die sie festhielten. Von der Zeit danach gab es keine Bilder, und dieser Umstand erinnerte ihn an etwas anderes, daran, daß Charlotte ihnen schon früh, bereits zu Marys Lebzeiten, entwachsen war, lange vor der offenen Feindseligkeit, die zum Ausbruch kam, als Jon und sie beschlossen hatten zu heiraten. Wenn er auf Reisen ging, nahm er einen Rahmen mit vier Fotos mit, die sie in unterschiedlichem Alter zeigten, stellte ihn immer auf seinen Nachttisch und rief sich die Vergangenheit – ohne die schlechten Zeiten − ein Jahr nach dem anderen ins Gedächtnis, bis er den Eindruck hatte, ihr Geist habe Frieden gefunden. Ja, Charlotte war viel erspart geblieben. Unvermeidliche Enttäuschungen in einer neuen Ehe, die Verfallsspuren, die die vergehende Zeit ihr aufgeprägt hätte, die ständig drohende Gefahr, daß Depression, Krankheit und Schmerzen wiederkämen. Die Ärzte, die er gefragt hatte, hatten ihm übereinstimmend erklärt: Sie habe im Augenblick der Enthauptung mit Sicherheit keine Angstzustände und keine bewußte Wahrnehmung gehabt. Noch etwas war ihr erspart geblieben: die finsteren Zeiten, die über das Land gekommen waren, und die Scham, die Schmidt wie viele Amerikaner empfand, wenn er im Ausland war, im Dienst der Stiftung in Europa oder auf den Museumsreisen durch Südamerika und Asien, für die er sich wieder angemeldet hatte.
    Nach der Schande von Abu Ghraib und der immer noch offenen Kloake Guantánamo schöpfte Schmidt wieder neue Hoffnung für sein Land, als die ersten Anzeichen für die Stärke von Obamas Kandidatur sichtbar wurden. Er las in aller Eile Obamas Autobiographie, fragte sich, ob jemand mit solchem Zorn auf den amerikanischen Rassismus Präsident der weißen wie der schwarzen Amerikaner sein könne, und beschloß, diesem hageren und brillanten jungen Mann zu trauen, einem Mann, dessen Frau zu einer anderen, unbeschwerteren Zeit Amerikas Liebling geworden wäre, sie hätte nur weiß und unverheiratet sein müssen.
    Mitte September, als Obama sich die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten gesichert hatte, trafen sich Schmidt und Gil Blackman zum erstenmal in jenem Herbst zum Lunch in Schmidts Club. An den Themen ihrer Unterhaltung hatte sich in all den Jahren kaum etwas geändert, nur vermied Mr. Blackman es jetzt, seine Töchter oder Charlotte zu erwähnen, eine taktvolle Unterlassung, für die Schmidt dankbar war. Außerdem sprach Gil jetzt nicht mehr von DT. Die Aphrodite aus dem Filmgeschäft hatte das Weite gesucht, nachdem sie eine Million Dollar eingesackt hatte, den von Mr. Blackman erpreßten Preis dafür, daß sie Elaine nicht von ihrer Abtreibung erzählte. Dieses Geld sei wohlverdient und vernünftig verwendet, erklärte Mr. Blackman ausdrücklich, und Schmidt stimmte ihm zu, obwohl er genau wußte, daß die olympische Gelassenheit seines Freundes eine Fassade war, hinter der Wut und Groll brodelten. Das Leben mußte weitergehen, und Mr. Blackman, der seit Die Schlange keinen Hit mehr gelandet hatte, spielte mit dem Gedanken an eine zweite Zusammenarbeit mit dem unerträglichen Joe Canning. Eine
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