Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Meridian

Titel: Meridian
Autoren: Amber Kizer
Vom Netzwerk:
Prolog
     
     
    Die Insekten waren die Ersten, die zu mir kamen; am Morgen, nachdem meine Eltern mich aus dem Krankenhaus nach Hause brachten, mussten sie tote Ameisen aus meinem Tragekörbchen entfernen. »Tot« war das erste Wort, das ich lernte.
    Als ich eines Morgens, ich war etwa vier, aus dem Bett stieg, trat ich auf eine riesige Kröte, die zerplatzte wie ein mit Wasser gefüllter Ballon. Danach schaltete ich nie wieder das Licht aus.
    In meinem sechsten Lebensjahr schlief ich nur noch im Sitzen, weil ich glaubte, die Sterbenden, die sich mir näherten, so rechtzeitig erkennen zu können. Manchmal hatte ich das Gefühl, meine Eingeweide seien mit Glasscherben gefüllt. Die Seelen der Tiere, die durch mich hindurchwanderten, waren einfach zu groß, zu übermächtig. Wenn ich dann morgens erwachte, schaute ich stets als Erstes in die blicklosen Augen einer Maus auf meinem Kopfkissen. Doch ich konnte mich einfach nicht an den Tod als meinen ständigen Begleiter gewöhnen.
    In meinen Alpträumen spukten keine Ungeheuer herum; ich fürchtete mich auch nicht vor dem Gespenst im Schrank. Offen gestanden wünschte ich mir oft, die Sterbendenwürden sich unter meinem Bett verstecken, nicht zwischen den Stofftieren neben meinem Kopf.
    Meine Mutter nahm mich in den Arm und sagte mir, ich sei etwas Besonderes. Wie gerne hätte ich geglaubt, dass meine Eltern sich nicht von mir abgestoßen fühlten. Doch ich werde die bedeutungsvollen Blicke, die sie sich über meinen Kopf hinweg zuwarfen, nie vergessen. Angst. Furcht. Ekel. Sorge.
    Morgens bestand meine erste Aufgabe darin, die Kadaver zu beseitigen. Anschließend machte ich das Bett. Ich zog Gummihandschuhe an, wenn ich die kleinen Leichen anfasste. Meine Hände bekamen vom vielen Gräberausheben Schwielen.
    Als ich vierzehn wurde, ging uns im Garten der Platz aus. Wenn ich wieder einmal krank war, übernahm mein Vater die Totengräberarbeit, jedoch mit kaum verhohlenem Widerwillen.
    Bebend vor Angst schleppte ich mich, ständig übernächtigt und kränkelnd, durch den Tag. Dauernd hatte ich Magenschmerzen. Ein langsam pochendes Kopfweh war immer da. Die Ärzte bezeichneten mich als eingebildete Kranke, und das Schlimmste war, dass sie nie einen Grund für meine Beschwerden fanden. Die Schmerzen waren wirklich da, die Ursache hingegen blieb ein Geheimnis. Man schlug vor, mich zum Psychiater zu schicken; vielleicht gehörte ich ja zu den Kindern, die sich in den Mittelpunkt drängen wollten. Manchmal ertappte ich meine Mutter dabei, wie sie mich eindringlich musterte. Oft begann sie ein Gespräch, brach dann mitten im Satz ab und verließ den Raum.
    Mit jeder Mondphase und jedem Monat, der verstrich,wurden die Tiere größer. Bald kamen sie nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. In der Schule raunten die anderen Kinder mir Spitznamen zu: Todesbotin, Totengräberin, Hexe und noch vieles mehr, so dass ich lieber gar nicht mehr hinhörte. Auch die Erwachsenen schlossen mich aus. Das tat weh.
    Als ich älter wurde, gab ich es auf, Freunde finden zu wollen. Ich kam zu demselben Schluss wie meine Umwelt: Mit mir stimmte etwas nicht. Ich war eine Spinnerin. Etwas, das man im Zirkus vorführt.
    Nachdem mein Bruder Sam geboren wurde, hielt ich in seinem Zimmer Wache, um die Leichen zu entfernen, bevor er morgens die Augen aufschlug. Es lag mir sehr viel daran, ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er nicht allein war, denn ich wusste, wie angsteinflößend diese Welt sein konnte. Er sollte nicht dasselbe durchmachen müssen wie ich und ein normales Leben führen. Doch schon nach einem Monat stellte sich heraus, dass die Sterbenden sich ihm nur näherten, weil ich bei ihm saß, und so zog ich mich zurück.
    Meine Eltern benahmen sich, als spielte das alles keine Rolle, als sei nie ein Tier neben mir gestorben und als sei unser Garten kein Friedhof. Stattdessen redeten sie mir ein, ich besäße eine ganz besondere Gabe.
    Unsere Verwandtschaft kannte ich nicht, mit Ausnahme einer Großtante, nach der ich benannt war und die mir einmal im Jahr zum Geburtstag eine Steppdecke schickte. Meine Welt besteht und bestand nur aus mir und dem Tod. Es ist sehr einsam dort, doch ich dachte, die Dinge würden sich zum Besseren verändern.
    Ich heiße Meridian Sozu, und ich hatte mich schwer geirrt.

Kapitel 1
     
     
    Am Morgen des 21. Dezember stand ich auf und freute mich schon auf das viertägige Weihnachtswochenende. Ich besuchte nämlich eine schicke Privatschule, die es mit Ferien so hielt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher