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Meridian

Titel: Meridian
Autoren: Amber Kizer
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Jungs? Ich habe keinen Freund. Glaubt ihr etwa, ein Junge würde …«
    »Möchtest du Pfannkuchen?«, fiel Mom mir ins Wort.
    Ich frühstückte nie. »Nein, schon gut. Ich muss den Bus erwischen, damit ich nicht zu spät komme.«
Was mag sonst dahinterstecken? An meinen Noten gibt es doch auch nichts auszusetzen.
    »Mer-D!« Sam stürzte sich auf mich. Diesen Spitznamen hatte er mir als Krabbelkind verpasst, und er war hängengeblieben. Heute, inzwischen war er sechs, war ich immer noch seine Mer-D. »Alles Gute zum Geburtstag! Ich habe ein Geschenk für dich. Ein richtiges Geschenk. Willst du wissen, was es ist? Willst du?« Eine von Sirup triefende Gabel in der Hand, umtanzte er mich, so dass bald sämtliche Flächen mit klebrigen Klecksen à la Jackson Pollack verziert waren.
    »Später, Sammy. Nach der Schule, einverstanden? Und dann gibt es einen Kuchen.« Ich vergötterte ihn und schenkte ihm die bedingungslose Liebe, die ich, außer von ihm, von niemandem bekam. Er fürchtete sich nicht vor mir. Stattdessen tat er so, als wären die toten Tiere vonseinen Lego-Männchen erschossen worden, und legte sie wie Attrappen in seine kleinen Forts.
    »Kuchen, leckeren Kuchen.« Grinsend sprang er auf und ab.
    Ich wandte mich wieder an meine Mutter. »Wovor hast du solche Angst?« Ich senkte die Stimme, damit Sam mich nicht hörte.
    Dad antwortete an ihrer Stelle. »Es gibt da etwas, das wir besprechen müssen, wenn du nach Hause kommst. Aber es kann warten.«
    »Bist du sicher?«, beharrte ich. Noch nie hatte ich die beiden so verstört erlebt.
    »Du wirst deinen Bus verpassen.« Mom stand ganz dicht neben mir. Seit einigen Monaten schwankte ihre Haltung zwischen überbehütend und abweisend. Manchmal konnte man den Abstand zwischen uns fast mit Händen greifen, dann wieder musterte sie mich, als wolle sie meine DNA auswendig lernen.
    »Hast du alles dabei, was du brauchst?« Sie starrte mich an, strich mir übers Haar und schob mir eine widerspenstige Locke hinters Ohr. Mom löste in mir stets das Bedürfnis aus, den Kopf zu schütteln und meine Frisur noch mehr durcheinanderzubringen. Sie lächelte wehmütig und traurig und fügte nichts mehr hinzu.
    »Alles bestens.« Ich zuckte mit den Achseln und marschierte aus der Küche. Dabei kam ich mir vor wie das einzige Kind auf einer Erwachsenenparty und war sauer, weil sie einfach nicht mit der Sprache herausrückten. Heimlichtuerei löste in mir ein Gefühl der Schwäche und Bedeutungslosigkeit aus. Außerdem konnte ich die Stimmung einfach nicht einordnen. Ich schulterte meinen Rucksack.
    Dad kam mir aus der Küche nachgelaufen. »Meridian, warte.« Er zog mich an sich und drückte mich so fest, dass das Atmen zur Herausforderung wurde.
    »Dad?« Verdattert wich ich zurück.
    Zumindest Sam verhielt sich so wie immer. Er spielte mit den Legosteinen, die er zu seinem gestrigen Geburtstag bekommen hatte. Meine Mom, mein Bruder und ich haben nämlich dicht beieinanderliegende Geburtstage.
    Als ich den Bus die Straße herunterrattern hörte, rannte ich humpelnd los, ohne mich umzuschauen. Das unverkennbare Keuchen des Fahrzeugs löste in mir stets den Wunsch aus, mich zu beeilen, selbst wenn ich schon wartend an der Bushaltestelle stand. Es war wie beim Pawlowschen Hund. Mein rechtes Knie fühlte sich steif an und war geschwollen. Ich erreichte die Haltestelle, als sich die Türen öffneten. Meine Mitschüler stiegen vor mir ein. Keiner sagte ein Wort – oder besser ausgedrückt, niemand achtete auf mich. Wieder ein Tag, wieder ein Augenverdrehen.
    Ich bestand die Prüfung in Bio. Dann gab ich meinen Englischaufsatz zum Thema Beschreibungen in den Romanen von Charles Dickens ab. In Geschichte wurde eine Quizstunde veranstaltet, in der ich zweihundert Länder mit ihren Hauptstädten aufzählte. Das Mittagessen ließ ich wie immer ausfallen, denn die Cafeteria war ein Ort, um den ich, koste es, was es wolle, einen Bogen machte. Wenn ich dem Rest der Menschheit aus dem Weg gehen wollte, versteckte ich mich meist in der Garderobe hinter der Bühne. Außerdem war es so leichter, die Kadaver loszuwerden, die sich um mich sammelten.
    Um halb fünf stoppte der Bus wieder an meiner Haltestelle.Meine Gedanken überschlugen sich. Vier Tage frei. Ich wollte sofort mit dem Nichtstun anfangen. Als erste Amtshandlung würde ich Uniform und Stiefel loswerden. Hinter mir stiegen meine Mitschüler, laut durcheinanderredend, aus. Beinahe wäre ich nach Hause gerannt. Ein blauer Mustang, mit
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