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Meridian

Titel: Meridian
Autoren: Amber Kizer
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oder dem Sheriff zu sehen. »Den Sechsten, glaube ich.«
    »Das Dreikönigsfest?« Nicht der Neuanfang, der Perimo vorgeschwebt hatte, allerdings einer, der mir um einiges besser gefiel.
    Ich nahm ein Fläschchen Nagellack aus dem Rucksack zu meinen Füßen und betrachtete meine nackten Zehen. »Das habe ich schon seit Wochen vor.«
    »Und als Nächstes färbst du dir wohl wieder die Haare.«
    »Vielleicht.« Ich liebäugelte mit Blond. »Hast du denn keinen Hunger?«, fragte ich.
    »Und du?«, gab er lächelnd zurück. Ich war gewachsen und hatte zugenommen. Endlich sah ich allmählich aus wie eine gesunde, gut ernährte Sechzehnjährige.
    »Wenn du es so genau wissen willst …« Wir fingen beide an zu kichern. Dann stellte er die Musik lauter und klopfte im Takt dazu aufs Lenkrad. Hinten auf der Ladefläche stieß Custos ein Freudengeheul aus. Ich hätte schwören können, dass das Lachen meiner Tante und von Charles mit der Brise heranwehte, begleitet von einem Hauch Rosenduft.

     
     
     
März 2009
     
    Jeder Stich war ein Herzschlag, jeder Saum eine Erfahrung und eine Lektion, die ich lernen musste. Jedes Stück Stoff entsprach einem Gefühl wie Zuneigung, Ablehnung, Schmerz und Glück. Gemeinsam ergaben diese Fragmente ein Leben oder zumindest ein Abbild davon. Wie Erinnerungen folgten sie keiner geraden Linie, sondern ähnelten eher einem Echo. Die Steppdecke, die meine Tante am Tag nach dem Tod eines Menschen genäht hatte, verriet viel über den Verstorbenen.
    Manche bestanden aus großen bunten Farbblöcken, als hätte die betreffende Person nur auf die wirklich wichtigen Momente geachtet und das Ticken der Uhr dazwischen überhört. Andere waren aus kaleidoskopähnlichen winzigen Stücken zusammengesetzt, einem Durcheinander aus Formen und Flächen, wie um zu sagen, dass der Verstorbene mehr Leben in einen Atemzug hineingepackt hatte als die meisten Menschen in ein ganzes Jahr.
    Meine Tante hat Steppdecken genäht. Ich weiß nicht, ob ich auch Talent dafür habe. Auf meiner Reise werde ich herausfinden, wer ich bin und wem ich unterwegs begegne.
    Eines steht jedenfalls fest: Der schmerzlose und schnelle Tod, wie Hollywood ihn darstellt, ist erstunken und erlogen. Es gibt nur wenige Glückliche, deren Seelen übergehen, bevor sie selbst etwas davon bemerken. Meistens ist es ein langwieriger und schmerzlicher Prozess, der sich eine geraume Weile hinzieht. Es kann Jahre, Monate oder Wochen dauern, denn der Tod funktioniert nun einmal in den seltensten Fällen wie ein Lichtschalter. Am Ende dieses Wegs stehe ich. Wenn der Tod denn so leicht wäre, müsste die Geburt, dem Gleichgewicht in unserem Universum folgend, ebenso mühelos sein. Und jede Mutter wird bestätigen, dass es sich bei Schwangerschaft und Geburt um komplizierte und schmerzhafte Vorgänge handelt. Eben mit Ausnahme der wenigen Frauen, die Glück haben.
    Ich bringe ebenso wenig den Tod wie der Geburtshelfer das Leben. Wir kommen einfach nur häufig mit beidem in Berührung – er mit dem Leben und ich mit dem Tod.
    Niemand hat eine Vorstellung davon, wie beängstigend es ist, wenn sich der Tod im Gesicht eines Menschen abzeichnet, wenn seine Augen sich weiten und wenn der Widerhall des Lebens darin sichtbar wird. Zu wissen, wer sein Seelenverwandter ist, den zweiten Vornamen seines Kindes zu kennen. Jede Seele, die durch mich hindurchgeht, lässt ein Stück von sich zurück. Ich spüre die Gefühle und die Erinnerungen jedes Lebens, das ich begleite. Ich erkenne die Rufe einiger Baumfrösche als die seiner Freunde und Familie. Ich weiß, ob ich das Heulen eines Geschwisterkojoten höre. Ich sehe Adressen und Telefonnummern. Es sind nur Bruchstücke von Gefühlen, aber ich trage sie in mir.
    Mit jedem Tag und jeder Seele werden es mehr. Eines Tagesmuss ich einen Weg finden, sie loszulassen, aber das Nähen von Steppdecken liegt mir nun einfach nicht.
    Kein Lebewesen sieht uns als reines Licht, solange es nicht zum Übergang der Energie bereit ist. Licht, Hitze, Leben und Bewegung sind nichts als Formen der Energie. Wenn der Körper stirbt, lebt die Energie weiter. Diese Energie muss irgendwohin. Das ist ein universelles Gesetz. Wir sind nur die Leiter, die diese Energie bewegen, indem wir leben und in der Nähe sind, wenn sie übergehen will – indem wir eine Straße entlangschlendern, einen Marathon laufen oder eine Reise unternehmen. Wir sind lebende und atmende Fenster zum Himmel. Um es geradeheraus auszudrücken, werden wir geboren, damit
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