Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Meridian

Titel: Meridian
Autoren: Amber Kizer
Vom Netzwerk:
in Deinem Herzen sein werde und Du in meinem.
    Deine Mutter in diesem Leben,
    Mom
    Ich zog mein Gepäck näher an mich heran und las den Brief wieder und wieder, bis ich ihn auswendig konnte. Dabei warf ich gelegentlich verstohlene Blicke auf die Leute, die den schäbigen Wartesaal betraten. Sie alle wirkten unauffällig und schienen sich nicht für mich zu interessieren. Ich musste hier mehrere Stunden totschlagen. Als mein Magen knurrte, ging ich zu den Verkaufsautomaten.
    Ich schob einen Dollarschein in den Schlitz und drückte auf den Knopf für Cremetörtchen, allerdings keine von Hostess, sondern irgendein markenloses Zeug. Dann stemmte ich mich gegen die Glasscheibe. Die klebrigen Dinger blieben haften, anstatt herauszufallen.
Typisch
. Im Leben wurde einem nichts geschenkt.
    Ich hämmerte mit der Faust gegen die Scheibe. »Jetzt komm schon!«, rief ich und schlug noch einmal zu. Endlich rutschten die Cremetörtchen in den Schacht, so dass ich sie heraus angeln konnte.
    Dann versuchte ich, die ersten Takte von »Happy Birthday« zu summen, aber ich brachte nur ein paar Töne heraus, bevor mir Tränen die Kehle zuschnürten und ich keine Luft mehr bekam.
Zwecklos
.
    »Alles Gute zu deinem sechzehnten Supergeburtstag, Meridian«, sagte ich und biss in das abgestandene, pappige Cremetörtchen. Wie ein Roboter kauend und schluckend, lehnte ich mich auf dem harten Plastikstuhl zurück undlegte den Kopf in den Nacken. Als ich die Wasserflecken hoch über mir an der Decke betrachtete, erinnerten sie mich an sepiabraune alte Landkarten.
    Als kleines Mädchen, etwa in Sams Alter, hatte ich mir das einzige Foto von Großtante Merry angeschaut, das wir im Haus hatten. Es war ein Schnappschuss aus ihrer Zeit als Krankenschwester während des Zweiten Weltkriegs. Ich hatte es gemustert, weil ich neugierig war, ob ich ihr ähnlich sah. Schließlich war ich nach ihr benannt. Allerdings hatte Mom stets so getan, als wäre Großtante Merry gar kein richtiger Mensch, sondern eher eine Märchenfigur.
    In unserer Familie hatten alle bis auf Dad innerhalb von drei Tagen Geburtstag. Mein Geburtstag fiel auf denselben Tag wie der meiner Tante. Ich war ihr nie begegnet und fand es offen gestanden ein wenig unheimlich, nach einer noch lebenden Person benannt zu sein. Es war, als erwartete sie von einem, dass man sich zu dem Menschen entwickelte, für den sie selbst sich hielt.
    Meine Tante meldete sich nie bei mir, nur an meinem – unserem – Geburtstag. Normalerweise schickte sie mir eine Steppdecke. Im Laufe der Jahre wurden diese Decken immer größer und bestanden aus kunstvoll zusammengenähten winzigen bunten Stoffstücken. Manche erinnerten an impressionistische Gemälde, andere an Fotos von Orten, Menschen und Ereignissen, von denen ich nichts wusste.
    Wenn ich diese Decken berührte, schienen sie mir eine Geschichte zu erzählen, die in meinem Arm vibrierte, als hätte jemand eine Stimmgabel angeschlagen. Also verstaute ich die Decken im Wandschrank im Flur und fasstesie nach Möglichkeit nicht an. Der Stapel Steppdecken hatte nichts Tröstendes an sich. Stattdessen sorgte er dafür, dass sich mir die Härchen am Körper aufstellten wie bei einem Gewittersturm.
    Ich fuhr hoch. In diesem Jahr war keine Decke eingetroffen, kein Paket, das ich gleich am Morgen öffnen konnte.
Also weiß sie, dass ich komme? War das alles ein abgekartetes Spiel?
Ich widerstand der Versuchung, meine Eltern anzurufen und sie zu fragen. Stattdessen atmete ich tief durch, um mich zu beruhigen. War meine Familie wirklich nicht mehr zu Hause?
    Im Busbahnhof roch es nach schweißfeuchten Dollarscheinen und nach Verzweiflung. Es stank nach Einsamkeit und Menschen, die allein reisten. Ich war aufgeregt und ziemlich verängstigt, kämpfte aber trotzdem mit dem Schlaf. Ständig drehte ich mich um und hielt Ausschau nach einer Bedrohung, damit ich etwas Heldenmutiges tun konnte, wie zum Beispiel die Beine in die Hand zu nehmen. Allerdings befanden sich so wenige Menschen im Wartesaal, dass meine Furcht allmählich nachließ. Zumindest ein wenig.
    Endlich ging am Horizont die Sonne auf. Das hektische Klappern von hohen Absätzen durchbrach die Stille. Die Frau hatte rabenschwarzes Haar, ein Farbton, der sicher nicht aus dem Drogeriemarkt stammte. Es war zu einem festen Knoten hochgesteckt. Ihre Lippen waren grell fuchsienrosa geschminkt, und ihr Kostüm hätte sie in den fünfziger Jahren als erfolgreiche Geschäftsfrau ausgewiesen. Es war zwar gut gepflegt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher