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Meridian

Titel: Meridian
Autoren: Amber Kizer
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in den von Menschen wimmelnden Wartesaal. Die gestrandeten Reisenden waren verärgert und schienen überrascht, dass es in Colorado so kurz vor Weihnachten schneien konnte. Ein älterer Mann im Rollstuhl fingerte an dem Sauerstoffschlauch in seiner Nase herum. Plötzlich stellten sich mir die Nackenhaare auf. Ich hatte das Gefühl, unter Wasser zu lange die Luft angehalten zu haben, so als ob jeder Moment ohne einen Atemzug einen Panikanfall näherrücken ließ.
    Genau dasselbe hatte ich auch bei dem Autounfall vor zwei Tagen empfunden. Die Stimme meines Vaters hallte mir in den Ohren. »Versprich, dass du davonlaufen wirst. Lauf, Meridian, lauf!«
    Ich musste hinaus, um Abstand zu dem sterbenden Mann zu gewinnen. Ein todkranker Mensch konnte mir Schaden zufügen. Auf der Suche nach einem Ausweg drehte ich mich im Kreis, konnte aber nichts entdecken. Keuchend rang ich nach Luft.
    Der alte Mann wandte sich in meine Richtung und starrte.Allerdings sah er nicht mich an, sondern blickte an mir vorbei, als hätte ich nicht wirklich dort gestanden. Dann weiteten sich seine Augen, und er streckte die Hände nach mir aus.
    Ein scharfer Schmerz fuhr mir durch den Kopf und den Arm hinunter. Ich taumelte auf den Ausgang zu. Die Familie des Mannes scharte sich um ihn, ein Kleinkind bekam einen Trotzanfall. Und dennoch ruhte der Blick des Mannes weiter auf mir. Er lächelte.
    Die Türen öffneten sich zischend, und ich stolperte in den Schnee hinaus. Endlich konnte ich wieder atmen. Der Druck ließ nach, und ich ging, Schritt für Schritt, weiter. Als ich einige Häuserblocks hinter mir hatte, kniete ich mich hin und erbrach mich in eine Mülltonne am Straßenrand. Ich schmeckte Blut, nahm eine Handvoll hoffentlich sauberen Schnee und ließ ihn im Mund schmelzen, bis der Geschmack sich gelegt hatte. Mein Gesicht und meine Arme waren schweißnass.
    Einen Fuß vor den anderen setzend, tastete ich mich weiter, bis ich in der Kabine eines Geldautomaten eine Bank entdeckte. Dort setzte ich mich, um wieder zu Kräften zu kommen, und schloss die Augen, denn immer noch stiegen Übelkeit und Schmerzen in Wellen in mir hoch. Ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht raste an mir vorbei und hielt am Busbahnhof. Ich wartete ab, bis die Sanitäter die Trage in den Wagen geschoben hatten, und kehrte dann zum Gebäude zurück. Mir blieb nichts anderes übrig.
    »Meridian. Meridian.« Als ich hörte, dass jemand meinen Namen rief, drehte ich mich um.
    Die hochschwangere Frau, die hinter Senora Portalsoherwatschelte, winkte mir zu. Ich hatte die Senora ganz vergessen.
    »Ich bin Doktor Portalso-Marquez. Vielen Dank, dass Sie meiner Mutter geholfen haben.« Sie schüttelte mir die Hand und küsste mich auf die Wange.
    »Gern geschehen.« Ich räusperte mich. Der forschende Blick der Senora machte mich verlegen.
    »Sie möchte, dass ich Ihnen das hier gebe.« Dr. Portalso-Marquez wies auf die Senora, die nickte, und reichte mir einen Fünfzigdollarschein.
    »Ich habe ihr doch nur vierzig Dollar geliehen«, protestierte ich und wollte ihr das Geld wieder in die Hand drücken.
    »Ja, aber Sie haben Ihr Essen mit ihr geteilt, und sie möchte sichergehen, dass Sie heute Abend auch genug haben. Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie sehen krank aus.«
    Was halten sie wohl von mir? Wie schätzen sie mich ein?
»Oh, alles in Ordnung. Danke. Ich kann nicht …«
    »Bitte, nehmen Sie es. Wir müssen ins Krankenhaus, ich glaube, meine Wehen haben angefangen.« Das erklärte den schmerzerfüllten Zug um Mund und Augen. »Hier ist meine Karte. Rufen Sie mich bitte an, falls Sie etwas brauchen. Die Überweisung war noch nicht eingegangen, als meine Mutter abreisen wollte. Außerdem weigert sie sich, Englisch zu lernen.« Mit einer Handbewegung und einem Seufzer drehte sich Dr. Portalso-Marquez zu ihrer Mutter um.
    »Danke.« Ich steckte die Visitenkarte ein. »Ich werde abgeholt.« Sie sollten nicht glauben, dass ich allein hier war.
    Senora Portalso beugte sich zu ihrer Tochter hinüber undredete schnell auf sie ein, worauf sich die junge Frau an mich wandte. »Sie möchte Sie gerne wiedersehen«, übersetzte sie. Dann zuckte sie mit den Achseln und zögerte. »Ist mit Ihnen auch sicher alles in Ordnung?«
    »Bella, bella luz.« Wunderschön, wunderschön, Licht.
Die Senora tätschelte meine Wange. Dann steuerten die beiden Frauen auf den Ausgang zu.
    Ich hätte sie gern gefragt, was sie mit dem Licht meinte. Aber ich hielt den Mund und blickte ihnen nach.
    Ich
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