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Meridian

Titel: Meridian
Autoren: Amber Kizer
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versteckte mich hinter einer Säule, während die Leute sich den Schnee von den Mänteln klopften und mit den Füßen aufstampften. Niemand machte den Eindruck, als suche er nach einer Sechzehnjährigen, der er noch nie begegnet war. Offenbar wurde ich nicht erwartet.
    Stundenlang saß ich da, aß Milky Ways und trank dazu Kräuterlimonade. Dann holte ich den Zettel heraus, auf den Mom die Adresse der Tante notiert hatte:
     
    EastMeetsWest
115 North South Road
     
    Ich war hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich mich an Moms Anweisungen halten, andererseits glaubte ich nicht, dass eine alte Dame es in einem Schneesturm hierher schaffen würde, auch nicht in einem Landrover.
    Im nächsten Moment kam ein schwarzer Hüne auf mich zu. Ich starrte auf mein Gepäck, um keinen Blickkontakt aufnehmen zu müssen. Er strahlte gleichzeitig Bedrohung und Geborgenheit aus.
    »Brauchen Sie ein Taxi, Missy?« Sein starker afrikanischer Akzent ließ mich zusammenfahren.
    »Was?«, erwiderte ich und sah ihn an.
    »Müssen Sie irgendwo hin?«, fragte er.
    Ich schaute zur Uhr hinauf. Fünf Stunden, acht Milky Ways, zehn Tüten Doritos-Maischips und drei Dosen Kräuterlimonade. Ich drängte mich an die Säule, die ich mit meinem Rücken gestützt hatte.
    »Vielleicht.« Ich wusste nicht, ob er der war, den ich erkennen würde. Vielleicht handelte es sich ja auch um einen Wink des Schicksals, damit ich meinen Hintern endlich in Bewegung setzte.
Ich kann weiter hier herumhocken und warten. Oder ich fahre zu meiner Tante und fordere Antworten.
    Er kratzte sich am Kinn und griff in seine Jackentasche, ohne seinen eindringlichen Blick von mir abzuwenden. »Ich war jetzt schon sechs Mal hier, und Sie sitzen noch immer herum.« Er förderte ein Foto zutage und hielt es mir unter die Nase. »Meine Tochter Sofi. Sie ist in Boston und kommt wegen des Unwetters nicht von dort weg. Hoffentlich ist sie nicht allein wie Sie. Ich bin Josiah. Wo ist Ihre Familie? Wo müssen Sie hin?«
    Was für eine Frage. Wo ist meine Familie?
    Ich hatte nie gelernt, mich auf meine Instinkte zu verlassen. Besaß ich überhaupt welche? Konnte ich diesem Mann mit der mitternachtsschwarzen Haut und den goldenen Augen trauen?
    Ich sehnte mich nach einem Bett, einer Dusche und Brokkoli, wirklich seltsam, ausgerechnet darauf Heißhunger zu haben. Also kramte ich den Zettel aus der Tasche. Schlimmstenfalls hatte ich es mit einem Serienmörder zu tun, der Schneestürme ausnützte, um gestrandeten Reisenden aufzulauern. Wenn ich tot war, hatte ich es wenigstens ausgestanden.
    »Gut. Klar. 115 North South.«
    »Das große Haus an der 69?«, fragte er.
    »Wahrscheinlich.«
    Er runzelte die Stirn. »Wohnt Ihre Familie dort?«
    »Meine Tante.« Ich schluckte.
    »Ich fahre Sie zur Einmündung. Aber bei diesem Schnee schafft es mein kleines Auto nicht den Hügel hinauf.«
    »Sie haben also keinen Landrover?«, erkundigte ich mich, noch immer überzeugt, den Mann vor mir zu haben, den ich sicher erkennen würde.
    Sein schallendes Gelächter brandete über mich hinweg, als er sich bückte und nach meinem Gepäck griff. »Nein, Missy. Nur einen alten Subaru. Mit noch älteren Schneeketten.«
    »Oh.« Ich folgte ihm. Er war sehr gesprächig und erzählte mir von seiner Familie. Seine Tochter studierte Ausländerrecht in Boston. Ich saß da, hörte zu und nickte und brummte an den passenden Stellen. Er fragte nicht viel, doch seine Stimme schien die Dunkelheit zu vertreiben. Wir fuhren an riesigen Schneewehen vorbei. Immer wieder passierten uns Schneepflüge. Ich hätte nicht sagen können, wo ich war, und wenn mein Leben davon abgehangen hätte. Allerdings war ich inzwischen so müde, dass es mich nicht mehr wirklich interessierte.
    »Da wären wir.« Er stoppte den Wagen und öffnete den Kofferraum.
    Mit viel Phantasie konnte ich in der Ferne beinahe ein Licht schimmern sehen. Die Auffahrt war mit Schneeverwehungen und Eispfützen bedeckt.
    »Sind Sie sicher?«, fragte ich, denn ich zögerte, das warme Auto zu verlassen.
    »Bin ich.« Er stieg aus.
    Ich wickelte mir den Schal um den Mund und zog die Handschuhe an. Dann warf ich einen Blick auf meine schicken Stiefel. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass ich besser Skikleidung hätte tragen sollen. Nicht, dass ich welche besessen hätte. Jedenfalls war ich für einen Gepäckmarsch durch den Schnee nicht richtig angezogen.
Aber ich habe keine andere Wahl, oder?
    Am Kofferraum blieb Josiah noch einmal stehen. »Wollen Sie wirklich
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