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Meridian

Titel: Meridian
Autoren: Amber Kizer
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Schülern der Oberstufe besetzt, wurde langsamer. Die Jungen beugten sich aus den Fenstern, um mit meinen Mitschülerinnen zu flirten. Ich fühlte mich unsichtbar, hörte jedoch mit halbem Ohr hin, während mein Haus in Sicht kam.
    Ein weißer Geländewagen mit getönten Scheiben kam vor mir um die Ecke gebraust. Der Fahrer konnte den Mustang und die Jugendlichen mitten auf der Straße unmöglich übersehen haben. Dennoch hätte ich schwören können, dass er Gas gab, beschleunigte und auf mich zuraste. Starr vor Schreck, ließ ich den Rucksack fallen.
    Offenbar hatte Mom mich durchs Fenster beobachtet. Nun rannte sie laut rufend und winkend aus dem Haus. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter. Ihre Stimme riss mich aus meiner Trance, und ich rettete mich durch einen Sprung ins Gebüsch. Die Jugendlichen hinter mir hatten hingegen weniger Glück.
    Ich hörte das Splittern und Klirren von Glas und Schreie und fühlte mich, als würde mir der Arm aus dem Schultergelenk gerissen. Außerdem bekam ich keine Luft mehr.
    Obwohl der Unfall nur wenige Sekunden dauerte, schien die Welt sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Der Geländewagen legte den Rückwärtsgang ein und raste davon. Der junge Fahrer des Mustang hing halb aus dem Fenster. Verknickte Metallteile waren überall auf der Straße verstreut wie zerknüllte Papiertaschentücher. Ein Mädchen aus meinemBiokurs lag neben ein paar anderen, die ich nicht kannte, reglos am Boden. Viele Gliedmaßen waren in unnatürlichen Winkeln verrenkt. Das Wimmern und Stöhnen der übrigen Opfer verriet mir, dass sie noch lebten. Als ich mich dem Blutbad näherte, um zu helfen, krümmte ich mich plötzlich vor Schmerzen. Es war, als bohrten sich glühende Schürhaken in meine Augen. Ich konnte kaum noch atmen und stürzte zu Boden. Tränen rannen mir die Wangen hinunter. Dabei liefen in meinem Kopf Fetzen von Szenen aus dem Leben aller Unfallbeteiligten ab wie zusammenhanglose Episoden aus einem Film.
    Mom hob mich vom Boden auf und schleppte mich rasch weg. Sie redete wirres Zeug, und ihre Stimme war schrill. Wieder wurde ich von einem Krampf erfasst. Was geschah da mit mir? Im nächsten Moment war Dad da und legte mich auf den Rücksitz unserer Familienkutsche. Ich hielt mir den Bauch, kniff vor Schmerzen fest die Augen zu und war in Schweiß gebadet.
    »Bring sie hier weg. Ich habe schon alles gepackt. Sam und ich kommen nach«, befahl Mom meinem Vater, während der Wagen bereits rollte. »Ich liebe dich, Meridian. Vergiss das nie!« Dad gab Gas.
    Er sprach mit mir. Worte, die keinen Sinn ergaben. Beschwichtigungen. Gebete. Aber ich hatte solche Schmerzen, dass ich ihn kaum hören konnte.
    Je weiter wir uns vom Haus und vom Unfallort entfernten, desto besser fühlte ich mich. Ich bekam wieder Luft, und der Schmerz zog sich zurück wie das Meer bei Ebbe. Endlich konnte ich mich aufsetzen und mir die Wangen mit dem Taschentuch abwischen, das Dad mir nach hinten reichte.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er und betrachtete mich im Rückspiegel.
    Ich nickte und wartete, bis ich die Sprache wiedergefunden hatte. »Was ist denn los?«
    »Uns ist die Zeit ausgegangen. Mom hätte es dir früher erzählen und dir alles erklären sollen. Aber sie wollte dich nicht in Gefahr bringen. Glaube mir, sie wollte dich beschützen. Du solltest so lange wie möglich eine glückliche Kindheit haben.«
    Ich verstand kein Wort. »Wovon redest du?«, erkundigte ich mich, als er innehielt, um Luft zu holen. Schließlich konnte man meine Kindheit weder als behütet noch als glücklich oder normal bezeichnen.
    »Du bist kein Mensch. Das heißt, nicht
ausschließlich
ein Mensch, sondern etwas Besonderes. Der Schmerz, den du vorhin empfunden hast, war wahrscheinlich eine menschliche Seele. Die Sache ist kompliziert.«
    Was
? Ich schluckte. »Dad, stimmt etwas nicht mit dir?«
    »Du musst fort, Meridian. Du musst zu deiner Tante ziehen und diese Dinge lernen.«
    »Was für Dinge?«
    Er seufzte verzweifelt auf. »Ich weiß es nicht. Deine Mutter hätte es dir erzählen müssen. Ich habe keine Ahnung davon. All die Jahre war ihr klar, dass du wirklich Schmerzen leidest. Aber sie hat es mir erst gesagt, als an Thanksgiving die Anrufe anfingen …«
    »Sie ist aber jetzt nicht hier, sondern du!«, rief ich. »Was soll das heißen, dass ich kein Mensch bin?«
    Unsere Blicke trafen sich im Rückspiegel. »Du bist ein Engel, ein Wesen, das man Fenestra nennt.«
    Offenbar war ich im Bus eingeschlafen und hatte jetzteinen
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