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Sintflut (German Edition)

Sintflut (German Edition)

Titel: Sintflut (German Edition)
Autoren: Gina Schulze
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Prolog
     
    Rumänien, 1984
     
    Es glänzte matt im Schein der Taschenlampe. In den Wandnischen vor ihm lagerten hunderte kleiner Figuren: Männer, Frauen, Hunde, Katzen, Stühle, Tische, Meerjungfrauen und Boote – alles von einer dicken Staubschicht bedeckt. Wenn es stimmte, was sein Freund ihm erzählt hatte, dann war dies der älteste Schatz der Welt. Einer, der schon alt war, als die Bibliothek von Alexandria brannte. Einer, der versteckt war, als die Kreuzritter den Orient plünderten. Einer, der spurlos verschwand und sogar die beiden Weltkriege überdauert hatte.
     
    Eine Hand packte seinen Arm und riss ihn aus seinen Gedanken. »Gehen wir«, verlangte sein Freund kurz angebunden, »es wird bald dunkel und morgen ist auch noch ein Tag.« Aus Angst vor Verrat band ihm der Mann ein Tuch vor die Augen, fesselte seine Hände und führte ihn langsam Schritt für Schritt ins Freie hinaus. Auch dort blieben die Augen verbunden und sie kamen nur langsam vorwärts. Selbst als sie schon im Auto saßen, weigerte sich der andere, die Fesseln zu lösen und ihm die Augenbinde abzunehmen.
     
    Am nächsten Tag waren sie erneut zu dem Schatz hinabgestiegen. Er hatte gerade eines der kostbaren Stücke näher betrachtet und sich ein paar Notizen gemacht, da bebte die Erde. Voller Furcht traten sie den Rückzug an, und in der Eile ließ er sein Notizbuch liegen. Trotz größter Gefahr musste er sich auch jetzt die Augen verbinden lassen. Sein Freund nahm ihn an der Hand und zog ihn wie am Vortag hinter sich her, nur viel schneller.
    Sie entkamen aus der Höhle, seine Augen blieben weiter verbunden. Der Pfad, der sie hinunter zum Auto brachte, war relativ eben und würde kein Problem sein, aber der Felsengrat, den sie vorher hinauf mussten, war blind nur dann zu schaffen, wenn man sich Zeit ließ. Und so kam, was kommen musste: Sein Freund trieb ihn zur Eile an, er verlor den Halt und rutschte ab. Nicht schlimm, aber er fühlte, wie sein Hosenbein zerriss. Ausgerechnet dieses Hosenbein. Der Andere sah die Pistole, die in seinem Stiefel versteckt war, und war außer sich vor Wut, schrie ihn an, prügelte auf ihn ein.
     
    Seit es um den Schatz ging, war das Klima zwischen ihnen von Misstrauen bestimmt. Er hatte die Pistole eingesteckt, weil er dem Freund genauso wenig traute wie der Freund ihm. Nun war die Freundschaft dahin, alle Gefühle waren in Hass umgeschlagen. Tritte trafen ihn im Gesicht, am Hals, an den Nieren. Er wurde ohnmächtig. Als er aufwachte, war er allein. Irgendwo in dem öden Gebirge, ohne Wasser und Brot.

1
    Erlangen, Juli 2004
     
    Heute vor zwei Wochen kam der Brief an. Ich legte ihn auf die Treppe und vergaß ihn für den Rest des Tages. Es war Samstag und Mitte Juli, also erst mal einkaufen, dann den Garten wässern, seit Tagen hatte es nicht geregnet. Am Abend öffnete ich den Brief. Er enthielt eine Einladung an Frau Dr. Paula Petrus zu einem Kongress in Bukarest. Paula, das ist meine Schwester. Sie ist Archäologin und gerade in Rumänien unterwegs. Ihre Post lässt sie solange an mich schicken. Ich sortiere sie dann und leite Wichtiges an sie weiter.
    Aber der Brief war nicht an sie adressiert, sondern an Marlene Adler. Und Marlene Adler, das bin ich: Ex-Polizistin, Hausfrau, einige Leute würden mich eine verkrachte Existenz nennen, aber die können mich mal. Und was heißt das auch schon. Je nach Berufszugehörigkeit geben sich die Leute ja sogar Mühe, eine verkrachte Existenz zu sein. Schriftsteller zum Beispiel oder Popstars oder Fußballprofis. Die dürfen alles Mögliche, dürfen kiffen, koksen, herumhuren und man hegt noch Sympathie, aber wehe ein Polizist stürzt mal ab. Dann sind wir gleich richtig miese Schweine und niemand mag uns mehr ins Gesicht schauen, wir selbst uns übrigens auch nicht.
    Jetzt habe ich tatsächlich ›wir‹ gesagt und es ausnahmsweise auch mal so gemeint. Wenn es um die freundlichen Tiermetaphern geht, über die meine Kollegen und ich täglich hinweghören müssen, während man gleichzeitig von uns erwartet, immer freundlich zu sein und unsere ›Kunden‹ unterschiedslos korrekt zu behandeln, auch wenn sie sich benehmen wie der letzte Dreck, dann, aber auch nur dann kann ich noch ›wir‹ sagen, ohne dass ich das Kotzen kriege.
    Ja, ich habe Fehler gemacht und nicht nur einen, sondern viele. Aber deshalb gleich für den Rest des Lebens das Büßerhemd anziehen und mit eingezogenen Schultern mea culpa murmeln? Nein. Man muss über alles Gras wachsen lassen, in
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