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Sintflut (German Edition)

Sintflut (German Edition)

Titel: Sintflut (German Edition)
Autoren: Gina Schulze
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Sammelbecken für Ästhetikverweigerer. Wer sich gut anzieht, wird hier eher misstrauisch beäugt und gilt als aufgedonnert. Karottenjeans mit Ringelpulli sind kein Problem, auch Schildkrötenkragen, Raglanärmel und geschoppte Windjacken gehören nach wie vor zum Straßenbild.
    Ich betrete Fleischmanns Wohnzimmer. Südseite versteht sich. Gnadenlos scheint die Sonne rein. Wer tagsüber am Computer arbeiten will, muss die Rollläden runterlassen. Aber Fleischmann hat zusätzlich auch noch alle Fenster geschlossen. Ich krame das Polaroid heraus und lasse meine Tasche auf einen Sessel neben der Tür fallen. Staubpartikel wirbeln durch die Luft, sichtbar dort, wo die Sonne durch die Perforierung der Rollläden fällt. Fleischmann zieht einen Rollladen hoch, um das Bild besser sehen zu können. Plötzlich ist es, als hätte er 20 Liegestützen an der frischen Luft gemacht. Seine Wangen bekommen Farbe, die Hand, die das Foto hält, zittert leicht. Er schluckt, bevor er mir antwortet. »Keine Ahnung, was das für eine Figur ist«, sagt er, »auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, als ob … warten Sie, ich zeige es Ihnen.«
    Er geht zu einem der Bücherstapel und zieht einen Bildband daraus hervor. »Das«, sagt er lauter als nötig, »sind Figuren aus einem Grab bei Cernavoda, Rumänien. Sie wurden 1956 gefunden, sind aus poliertem Ton, etwa handgroß. Er ist ein alter Vegetationsgott, der seine Kraft versprüht hat und den Tod erwartet. Sie symbolisiert die Muttergöttin, eine zentrale Kultfigur Osteuropas. Im Volksmund heißen die beiden auch der Denker und seine Frau , selbstverständlich eine vollkommen irreführende Bezeichnung, denn mit dem Denken war es damals ja noch nicht so weit her. Wie dem auch sei: Weitere Figuren von diesem großen Künstler der sogenannten Hamangia-Kultur wären eine Sensation. Als ich das Foto sah, dachte ich zuerst, Paula hätte eine solche gefunden. Aber bitte nehmen Sie doch Platz, Frau Adler.«
    Auf einem Sofa sind Bücher, Manuskripte, Zeitungen und wissenschaftliche Fachblätter angehäuft. Dazwischen hat Fleischmann eine kleine Sitzmulde freigelassen, an der Wand gegenüber steht ein Fernseher. Ich sehe ihn abends da sitzen, die Füße auf den Couchtisch, belegte Brote auf einem Frühstücksteller, eine Tube Senf, eine Dose Thunfisch in Öl und ein halb volles Glas saure Gurken. Der Hausherr schlägt eine zweite Schneise in den Blätterwald, ich setze mich auf den frei gewordenen Platz.
    »Verzeihen Sie die Unordnung, aber es kommt so selten Besuch«, sagt er verlegen und lässt sich neben mir nieder.
    »Kann es nicht sein, Paula hat die Figur auf dem Foto irgendwo gefunden und nun …«, frage ich, komme aber nicht weit.
    »Schon, aber das sagt gar nichts. Deshalb muss sie noch lange nicht aus der Hand des Hamangia-Künstlers stammen. Wie gesagt, auf den ersten Blick sieht es so aus, aber schon in der Vorzeit wurde kopiert, hier, sehen Sie mal.«
     
    Er zeigt mir eine Zeichnung von einer Figur, die genauso dasitzt wie der Denker, aber man sieht sofort, sie ist von einem anderen Künstler.
    »Die Figur wird der Cucuteni-Kultur zugerechnet und ist viel jünger, Einflüsse aus Hamangia sind jedoch sichtbar. Dieser Denker ist eine Imitation. Und die Figur auf ihrem Foto vermutlich auch.«
    »Bei der Figur auf meinem Foto sehe ich aber außer der Handstellung keinen großen Unterschied …«
    »Für einen Laien«, unterbricht er mich wieder, »sind die Unterschiede auch nicht ohne Weiteres sichtbar. Nur mit viel Erfahrung können Sie darüber ein Urteil abgeben. Außerdem: Wenn Paula einen so spektakulären Fund gemacht hätte, würden wir am Institut als Erste davon erfahren. Wahrscheinlich hat sie sich einen Scherz erlaubt. Sie kennen sie ja. Vielleicht ist das Ding da aus einem Souvenirshop. Oder Paula ist einer Fälscherbande auf der Spur. Das könnte allerdings Ärger geben.«
    Paula würde nie so ein Foto schicken, nur um einen Scherz zu machen. Da hat sie bessere Möglichkeiten. Ich glaube, sie hat etwas gefunden und eben nicht ihr Institut benachrichtigt, sondern mich. War es etwa ein Fehler, mit dem Polaroid gleich zu Fleischmann zu rennen? Wenn ja, bringt es jetzt nichts mehr, darüber nachzudenken. Der Fehler ist schon passiert.
     
    Ich trete den Rückzug an. Wie Fleischmann krumm und verspannt dasitzt, wie er abwechselnd mich und dann wieder das Foto anstarrt, hat was Unangenehmes. Als ich aufstehe, bietet Fleischmann mir einen Kaffee an, dann ein Bier, dann will
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