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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn
Autoren: Georg Cadeggianini
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1  Frau
1  Mann
6  Kinder
1  Überraschungsgast
1  Abend
in Haidhausen, München
    wo die Salami überm Ehebett hängt, Eltern zu Toreros werden und Entenform-Eiswürfel im Gin schwimmen. Und warum wir bei alledem nur mit einer Strategie weiterkommen: Complicate Your Life
    Zu CYL kam ich wie der heilige Joseph zum Kind: weitgehend unbeteiligt, en passant – durch Reden. Sagen wir: Ich kannte die richtigen Leute. CYL ist Sinn und Speed in einem. CYL ist das Wichtigste, was ein Mensch lernen kann: Complicate Your Life. Wer sich für den CYL -Weg entscheidet, ist schon fast da: im Glück.
    Es könnte alles so einfach sein, dachte ich früher. Entschleunigen, Runterfahren, ein Leben in Basics. Was braucht man denn schon wirklich? Simplifying, den Alltag entschlacken, immer mal wieder ein paar Schlucke Yogi-Tee, nicht zu heiß. Einfach mal richtig entspannen.
    Ein Irrweg.
    Es war jener Abend mit Simon, an dem ich die Kraft von CYL in meinem Leben erkannte.
     
    Wer die Idee mit der selbstgemachten Pasta hatte, ist im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbar. Wahrscheinlich ich. Sicher sind nur zwei Dinge. Erstens: Die Idee passte ganz wunderbar zu diesem Abend. Zweitens: Sie war Mist.
    Da waren:
    6  bettreif-unwirsche Kinder,
    1  Frau im Mantel,
    1  Mann ohne Nerven,
    3  Dutzend Murmeln,
    1  Glas Waldhonig ( 750  Gramm), das aus Brusthöhe der Schwerkraft überlassen wurde,
    35 , 8  Kilo Lego und
    1  Überraschungsgast.
    Ja, und hinzukamen dann noch 5  Eier, Salz, 500 Gramm Mehl, um ebenjene vermaledeite, geknetete, gewalzte, geschnittene Hausmacherpasta zu machen.
    Aber vielleicht beginnt man so einen Abend am besten unten. Beginnen wir also mit dem Kleinsten. Beginnen wir mit Jim.
     
    Jim, 1 , stapft in die Küche, die Windel hängt tief, in der Hand eine Blechdose mit Murmeln.
    »Ech. Mörmeln.« Jim sagt »Ech« statt »Ich«, »Mörmeln« statt »Murmeln«, und wenn es etwas zu verteilen gibt, dann meldet er sich stets beidhändig.
    Camilla, 7 , jagt Lorenzo, 6 , durch den Raum, rempelt Jim an. Er wankt, fliegt ein wenig gegen den Kühlschrank. Die Murmeln scheppern in der Blechdose. Das ist laut. Jim lacht.
     
    Er ist Sechstgeborener – mit allem was dazugehört. Das sind neben fünf größeren Geschwistern vor allem zwei Eigenschaften: Standfestigkeit und eine Art Lückenintuition.
    Ein Sechstgeborener probiert nicht einfach mal eben so das große Ding mit dem Laufen aus. Wenn Jim sich hinstellt, dann breitbeinig, so als ob er normalerweise auf einem Pferd durchs Leben reiten würde, das ihm aber aus unerklärlichen Gründen abhandengekommen ist, was er jedoch – wie man aus seiner Beinstellung schließen muss – noch gar nicht bemerkt hat. Und falls Jim trotzdem mal hinknallt, dann auch nicht einfach so – mit Karacho auf den Hinterkopf, lang, langes Luftholen, Platzwunde, Krankenhaus –, nein, sondern tapfer und falltechnisch ausgebufft. Jim findet immer noch irgendeinen Halt, einen Kühlschrankgriff, ein Telefonkabel, ein Geschwister, irgendwas, um die Wucht abzubremsen. Ihm genügen Millisekunden, um den Arm noch zur Seite zu nehmen, sich im Fallen einzudrehen und dann abzurollen. Das tut natürlich trotzdem weh. Man sieht das. Und wenn es sehr weh tut, dann schreit Jim auch. Aber dann eben verdichtet: also kürzer und dafür lauter. Als er sich neulich seinen linken Ringfingernagel bis kurz vors Nagelbett eingeschnitten hat, haben wir das weder mitbekommen, noch uns im Nachhinein erklären können. Den Blutspuren folgend haben wir den kleinen Mann gefunden: aufrecht, tonlos, staunend.
     
    Neben der Standfestigkeit ist es zweitens eben auch die Lückenintuition, die unseren Jüngsten auszeichnet. Jim ist Nischenmeister.
    Als er auf die Welt kam, waren Leben und Wohnung der Eltern bereits voll. Drei Zimmer, acht Leute – das wird eng, dachte er sich wohl und schulte von Anfang an jenen Instinkt zur Lücke, mit dem er sich bis heute, etwa beim Buchvorlesen, so lang aalt, bis er auf einem Premiumplatz sitzt.
    Ein normaler Würfel hat sechs Seiten, ein normaler Vorleser drei: links, rechts und Schoß. Nur wer einen dieser drei Plätze ergattert, dem ist der freie Blick ins Bilderbuch gewiss. Nischenmeister Jim hat nun – sehr zu meinem Leidwesen – einen vierten Platz aufgetan: auf dem Kopf des Vorlesers. Jim ist der, der sich bei der Polonaise einfach vorne randrückt, während andere noch auf das Schlangenende warten. Und beim abendlichen Akkordzähneputzen ist er es, der es immer
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