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Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
Autoren: Leo Trotzki
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Kapitel 1: Die Eigenarten der Entwicklung Rußlands
    Der grundlegende, beständigste Charakterzug der Geschichte Rußlands ist dessen verspätete Entwicklung mit der sich daraus ergebenden ökonomischen Rückständigkeit, Primitivität der Gesellschaftsformen und dem tiefen Kulturniveau. Die Bevölkerung der gigantischen, rauhen, den östlichen Winden und asiatischen Eindringlingen geöffneten Ebene war von Natur aus zu weitem Zurückbleiben verurteilt. Der Kampf mit den Nomaden wähnte fast bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Der Kampf mit den Winden, die im Winter Frost, im Sommer Dürre bringen, ist auch heute noch nicht beendet. Die Landwirtschaft - die Grundlage der gesamten Entwicklung - schritt auf extensiven Wegen vorwärts: im Norden wurden die Wälder abgeholzt und niedergebrannt, im Süden die Ursteppen aufgerissen; das Besitzergreifen von Natur ging in die Breite, nicht in die Tiefe.
    Während die westlichen Barbaren sich auf den Ruinen der römischen Kultur ansiedelten, wo viele alte Steine ihnen als Baumaterial dienten, fanden die Slawen des Ostens in der trostlosen Ebene keinerlei Erbe vor: ihre Vorgänger hatten auf einer noch tieferen Stufe als sie selbst gestanden. Die westeuropäischen Völker, die bald an ihre natürlichen Grenzen stoßen mußten, schufen die ökonomische und kulturelle Zusammenballungen: die gewerbetreibenden Städte. Die Bevölkerung der Ostebene zog sich beim ersten Anzeichen von Enge in die Wälder zurück oder wanderte an die Peripherie ab, in die Steppe. Die initiativ- und unternehmungslustigen Elemente der Bauernschaft wurden im Westen Städter, Handwerker, Kaufleute. Die aktiven und kühnen Elemente des Ostens wurden einesteils Händler, größtenteils jedoch Kosaken, Grenzsiedler, Kolonisatoren. Der im Westen intensive Prozeß der sozialen Differenzierung wurde im Osten aufgehalten und durch den Expansionsprozeß verwischt. "Der Zar der Moskowiter, obwohl christlich, herrscht über Menschen von faulem Geist", schrieb Vico, der Zeitgenosse Peters 1. Der "faule Geist" der Moskowiter war ein Abbild des langsamen Tempos der wirtschaftlichen Entwicklung, der Ungeformtheit der Klassenbeziehungen, der Armut der inneren Geschichte.
    Die alten Zivilisationen Ägyptens, Indiens und Chinas besaßen einen ausreichend selbstgenügsamen Charakter und verfügten über ausreichende Zeit, um trotz tiefstehender Produktionskräfte ihre sozialen Beziehungen fast zur gleichen, bis ins einzelne gehenden Vollendung zu bringen, zu der die Handwerker dieser Länder ihre Erzeugnisse brachten. Rußland lag nicht nur geographisch zwischen Europa und Asien, sondern auch sozial und historisch. Es unterschied sich vom europäischen Westen, aber auch vom asiatischen Osten und näherte sich während verschiedener Perioden in verschiedener Hinsicht bald dem einen, bald dem anderen. Der Osten brachte das tatarische Joch das als wichtiges Element in den Aufbau des russischen Staates einging. Der Westen war ein noch gefährlicherer Feind, aber gleichzeitig Lehrer. Rußland hatte keine Möglichkeit, sich in den Formen des Ostens herauszubilden, weil es gezwungen war, sich stets dem militärischen und ökonomischen Druck des Westens anzupassen.
    Das Bestehen feudaler Beziehungen in Rußland, von den alten Historikern verneint, kann man auf Grund neuer Forschungen als unbedingt nachgewiesen betrachten. Mehr noch: die Grundelemente des russischen Feudalismus waren die gleichen wie im Westen. Aber schon allein die Tatsache, daß die feudale Epoche erst durch lange wissenschaftliche Streitigkeiten festgestellt werden mußte, ist ein genügendes Zeugnis für die Unreife des russischen Feudalismus, seine Ungeformtheit und die Dürftigkeit seiner Kulturdenkmäler.
    Ein rückständiges Land eignet sich die materiellen und geistigen Eroberungen fortgeschrittener Länder an. Das heißt aber nicht, daß es ihnen sklavisch folgt und alle Etappen ihrer Vergangenheit reproduziert. Die Theorie von der Wiederholung historischer Zyklen - Vico und dessen spätere Anhänger - stützt sich auf Beobachtungen des Kreislaufs alter, vorkapitalistischer Kulturen, zum Teil auch auf die ersten Erfahrungen der kapitalistischen Entwicklung. Eine gewisse Wiederholung der Kulturstadien an immer neuen Herden war tatsächlich mit dem provinziellen und episodischen Charakter des gesamten Prozesses verbunden. Der Kapitalismus bedeutet jedoch die Überwindung dieser Bedingungen. Er bereitete vor und verwirklichte in gewissem Sinne die
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