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Schlafende Geister

Schlafende Geister

Titel: Schlafende Geister
Autoren: Kevin Brooks
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bei der Vorstellung, ihm zu vertrauen … Aber inzwischen fühlte ich mich so erschöpft, so verloren, da war so viel Schwärze und so viel Leere in mir, dass ich kaum noch denken konnte. Ich war hinabgesunken zu dem dunklen Ort, von Finsternis umgeben, und ich war dort seit jeher und würde für immer dort sein …
    Ich konnte nichts tun.
    Wollte nichts.
    Wozu?
    Die Versuchung, das Ganze einfach zu beenden, war fast unwiderstehlich. Ich musste nur den Finger bewegen … ich konnte das. Den Finger bewegen, abdrücken …
    Eins … und Ray Bishop wär tot.
    Zwei … sein Bruder.
    Und ein drittes Mal …
    Nichts.
    John?
    Scheiß auf alles, tu’s einfach.
    Hör zu, John.
    »Stacy?«
    Bishop hat recht … Bridget braucht dich.
    »Er sagt das doch nur, Stace … er benutzt sie nur –«
    Ich weiß. Aber sie braucht dich trotzdem. Und du brauchst sie.
    »Ich –«
    Doch, John.
    »Ich will mit dir zusammen sein, Stace.«
    Ich bin in deinem Herzen, John … für immer. Egal, was passiert.
    »Ich weiß.«
    Ich liebe dich.
    »John …?«
    Ich sah Bishop an. Er war neben mir in die Hocke gegangen und starrte mir in die Augen.
    »Ist gut, John«, sagte er leise. »Alles ist gut … geben Sie mir einfach die Waffe …«
    Ich schaute auf seine ausgestreckte Hand – sah die Form, die Farbe, die Beschaffenheit der Haut … die Linien und Poren – und plötzlich wusste ich, dass ich nicht mehr nachdenken musste. Ich musste nur noch die Pistole in Bishops Hand legen und das war’s. Keine Entscheidungen mehr, keine Überlegungen. Was immer geschah, würde geschehen. Wenn ich lebte, lebte ich. Wenn ich starb, starb ich.
    Die Zukunft gibt es nicht.
    Ich nahm den Finger vom Abzug, hob langsam die Waffe und legte sie vorsichtig in Bishops Hand.
    »Danke«, sagte er. Einen Moment lang betrachtete er die Pistole, runzelte leicht die Stirn, dann schaute er auf seinen Bruder.
    »Micky?«, murmelte Ray leise. »Sind wir –?«
    »Auf Wiedersehen, Ray«, sagte Mick.
    Er setzte seinem Bruder die Waffe an den Schädel und drückte in aller Ruhe ab.
     

33
    Ich hockte wahrscheinlich kaum eine Minute so da, in fassungslosem Schweigen über Ray Bishops toten Körper gebeugt, doch es schien wie eine lange, sehr lange Zeit. Auch sein Bruder blieb, wo er war. Und als ich es schließlich schaffte, mich umzudrehen und ihn anzusehen, erkannte ich, dass er weinte. Sein Gesicht zeigte noch immer keine Regung und er gab auch keinen Laut von sich. Er saß einfach nur in der Hocke am Boden, starrte auf seinen Bruder und die Tränen rannen ihm still aus den Augen.
    Ich sagte nichts.
    Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen.
    Schließlich holte Bishop tief Luft, blies sie langsam wieder aus, und ohne den Blick von Ray zu wenden, sagte er zu mir: »Es war die einzige Möglichkeit. Es gab keine Chance mehr für ihn. Es musste ein Ende haben.«
    Ich blieb stumm.
    Bishop sah mich an. »Er war mein Bruder. Ich habe auf ihn aufgepasst. Ich habe ihm sein Leben gegeben … deshalb musste ich ihm auch den Tod geben. Niemand anderes … nicht Sie. Ich konnte es Sie nicht tun lassen. Er war mein Bruder.«
    Ich nickte. »Und was passiert jetzt?«
    Er blies wieder die Luft aus den Wangen und stand auf. »Wie gesagt, ich regle das.«
    Er streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie und er half mir auf die Beine. Ich schaute hinüber zu Bridget. Sie rührte sich immer noch nicht.
    Bishop zog ein Handy aus der Tasche. »Ich rufe einen Krankenwagen für sie, sobald ich hier drinnen alles aufgeräumt habe. Ich muss ein paar Anrufe machen, ein paar Dinge organisieren. Es wird eine Weile dauern, aber nur so geht es.« Er sah mich an. »Ist das in Ordnung für Sie?«
    Ich warf einen Blick auf die Pistole in seiner Hand. »Ich hab keine große Wahl, oder?«
    »Nein.«
     
    Während Bishop anfing zu telefonieren, ging ich hinüber und setzte mich neben Bridget. Ich legte ein Kissen unter ihren Kopf, wischte ihr etwas Blut aus dem Gesicht, streichelte ihr Haar … ich sagte ihr ganz leise, dass sie wieder gesund würde. Und dann weinte ich wohl eine Weile.
    Danach ging ich ins Schlafzimmer und fand die Flasche Whisky, von der mir Bridget erzählt hatte. Während ich ein staubiges Glas vollschenkte, stellte ich mir noch einmal vor, wie wir zusammen im Bett gelegen hatten, und ich erinnerte mich an fast alles – an die Gefühle, die Geräusche, die Düfte … und ich sah mich im Bett, wie ich mich herüberwälzte, den Arm nach der Jacke ausstreckte und die
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