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Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga

Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga

Titel: Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga
Autoren: Lynne Wilding
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    Neuseeland 1993
     
     
    R olfe Kruger stand auf der Veranda seines Hauses, seine morgendliche Tasse Kaffee in der Hand, während sich der Nebel über den Weinreben langsam lichtete. Seine Nasenflügel dehnten sich merklich beim Einatmen. Die Luft war kühl und roch nach Erde, ein Zeichen dafür, dass der Herbst auf der Südinsel bevorstand. Rolfes hellblaue Augen, von deren Rändern viele kleine Fältchen ausgingen, begutachteten die Reben. Es gab bereits Anzeichen, dass der Wechsel der Jahreszeit kurz bevorstand. Die Blätter kräuselten sich und wurden gelb, ehe sie einen rotbraunen oder hellbraunen Farbton annahmen, danach abfielen und sich mit der Erde vermischten.
    Rolfe kratzte seinen kurz geschnittenen Bart, eine gleichmäßige Mischung aus grauen und gelblichbraunen Stoppeln, und lächelte zufrieden. Der Jahrgangswein war da, die Trauben waren geerntet und zerstampft und über eintausend Flaschen Valley View Chardonnay und fünfhundert Flaschen Rotwein abgefüllt worden. Dies war eine zwanzigprozentige Steigerung im Vergleich zur Ernte des Vorjahres. Jetzt konnte er es ein wenig langsamer angehen lassen und sich um die zahlreichen, nicht ganz so wichtigen Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Grundstück kümmern, Instandsetzungsarbeiten, die er schon monatelang aufgeschoben hatte.

    Unbewusst fuhr er mit der linken Hand über seine Brust, wo er ein beklemmendes Gefühl verspürte. Diese verdammten Verdauungsstörungen. Es war sein eigener Fehler. Er hätte nicht so viel von der deutschen Wurst essen sollen, die er im Delikatessengeschäft in der Stadt gekauft hatte. Seit seiner Kindheit war er süchtig nach dieser Delikatesse. Kaum wahrnehmbar schüttelte er den Kopf. Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken, die mit so viel Schmerz und Leid verbunden war. Er trank seinen Kaffee aus und stellte den Becher auf den Boden. Dann krempelte er die Ärmel seines ausgeblichenen karierten Hemdes auf und stieg die Stufen hinunter, bis er die Weinreben in der ersten Reihe erreichte. In einer geraden Linie erstreckten sich die Reben etwa fünfundvierzig Meter weit in westliche Richtung.
    Er schritt an den Weinstöcken entlang und, wie er es seit fünfunddreißig Jahren getan hatte, bückte er sich, richtete sich wieder auf und streckte sich. Er entfernte die abgestorbenen Stiele und schnitt die unteren Ranken mit der Gartenschere zurück, um das Wachstum zu beschleunigen.
    Als er das Ende der dritten Reihe erreicht hatte, blickte er auf, um den Stand der Sonne zu prüfen. Es war mitten am Morgen. Er blinzelte zweimal und war erstaunt darüber, wie langsam er war. Dann zuckte er gelassen die Schultern. Er war schließlich nicht mehr der Jüngste und nicht so rege wie Peter Cruzio, der auf Teilzeitbasis mit ihm zusammenarbeitete, oder Angelique Dupayne. Angie, die Frau, die er liebte, konnte genauso hart anpacken wie die Männer. Er hätte es allerdings lieber gesehen, wenn sich die talentierte Winzerin in der Weinkellerei aufhalten und sich um die Weiterverarbeitung der Trauben und um die Veredelung des Saftes kümmern würde. Die Weinherstellung
war heutzutage eine Wissenschaft für sich und etwas völlig anderes als in früheren Zeiten.
    In den vergangenen Wochen hatte er sich an die Qualen gewöhnt, und eine Zeit lang gelang es ihm, den dumpfen Schmerz, der von seiner Schulter aus in den linken Arm zog, zu ignorieren und ihn als Rheuma, ein weiteres Zeichen dafür, dass er alt wurde, abzutun. Dann spürte er einen stechenden Schmerz im Rücken, und er stöhnte auf und umklammerte seine Brust. Rolfes erster Gedanke war Nie wieder deutsche Wurst, sie war viel zu fett. Dann spürte er einen zweiten, noch stärkeren Schmerz, und er fiel auf die Knie. Sein linker Arm war plötzlich unbrauchbar geworden - was für eine grausame Vorstellung.
    Das Atmen fiel ihm schwer. Es war, als würde ein schweres Gewicht gegen seine Brust drücken. Einen Augenblick lang senkte er den Kopf und nahm den Schmerz hin. Dann dachte er an seine Tochter und seinen Enkel und an all die Dinge, die er noch erledigen wollte. Sein Kiefer verspannte sich, und sein Kopf hob sich ruckartig. Er kämpfte um jeden Zentimeter Luft, um seine Lungen zu füllen gegen diesen quälenden, zermürbenden Schmerz, der immer stärker wurde. Er wusste, dass er aufstehen und zum Haus zurückgehen musste, damit er Hilfe bekam …
    Er sah alles nur noch verschwommen, dann wieder klar, dann wieder verschwommen. Sein rechter Arm zuckte nach oben an den
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