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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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bei jeder
Gelegenheit daran? Er blieb in der Mitte der Brücke stehen, wie er dies jeden
Abend tat, lehnte sich an das Geländer und betrachtete mit kurzsichtig blinzelndem
Blick das im letzten Schein der abendlichen Sonne dämmernde Stadtbild.
    Hier war am linken Ufer der uralten
Wasserstraße die große neue Stadt gewachsen, mit ihren ansehnlichen
Häuserblocks, den neuartigen grell-getünchten, von nervösen Zeitgenossen bewohnten
Zinshäusern, deren glatte, dünne Wände jeden Laut durchließen. Frauen
züchteten dort auf winzigen Ständern Kakteen, und über den unbequemen, mit
gestreiftem Stoff bezogenen Schlafstellen und Sofas standen Bücher auf den
Regalen, die das Bild dieser modernen Zeit widerspiegelten – skeptische,
aufwühlende Bücher, unbarmherzig freimütige Bücher, die zeitweilig auch die
Staatsanwaltschaft beschäftigten und über die auch er, der Richter, seine
offizielle Meinung äußern mußte. Er bemühte sich manchmal, solche Romane zu lesen,
befürchtete dann aber gleichzeitig, daß sie sein seelisches Gleichgewicht und
seine Demut beeinträchtigen könnten.
    Da lag also am linken Ufer dieses
Flusses die neue Stadt mit ihren zementenen Geschwülsten, bewohnt von ratlosen,
skeptischen und nervösen Menschen, die Geld aus der Steinwüste hervorzauberten,
die ganz anders als er dachten und liebten, sprachen und schwiegen, krank,
gesund, glücklich und verzweifelt waren, und über sie mußte er das Urteil
sprechen! Kannte und verstand er denn diese Menschen? Diese grellgetünchte
glatte Fassade des Lebens war ihm doch völlig fremd. Die Erscheinungsformen
dieses seltsamen modernen Lebens kündeten Sachlichkeit, hinter dieser
gekünstelten Sachlichkeit aber lauerten Verwirrung und Zweifel. Zweifel allem
gegenüber, was geschriebenes Gesetz und Prinzip war. Kömüves stützte das Kinn
in die flache Hand und betrachtete die fremdartig-vertraute Stadt, die große Stadt, die
sündige Stadt, die rastlos, mit asthmatischem Keuchen nach Geld, Lebensfreude
und Macht hastende Stadt, die durch die Kapillarröhren des Denkens, der Mode,
der Wissenschaft, des Handels und der Geldgeschäfte mit dem Westen in
Verbindung stand. Sie entlieh sich neue Formen, verdaute sie gut oder weniger
gut, war teilweise in Lumpen gekleidet und teilweise nach der allerneuesten
europäischen Mode.
    Ja, es war eine unförmig große,
unruhige und nach fremden Gesetzen geschaffene Stadt. Jeden Morgen, wenn er
über diese Brücke in sein Amt ging, das ihm auftrug, über die Zweifel, Wünsche
und Sünden dieser Stadt zu urteilen, spürte er dieselbe ratlose Befangenheit –
wie ehemals, vor langer Zeit, da er als Student auf dem Bahnhof der Hauptstadt
aus dem Zug gestiegen war, der ihn von seiner Vaterstadt aus der Provinz hierhergebracht
hatte. Damals hatte er nicht einmal die Sprache dieser Menschen genau verstehen
können, hatte er doch in jenen Tagen noch in der Mundart Oberungarns
gesprochen. Er dachte daran und lächelte.
    Dann wandte
er sich langsam dem historischen Schaufenster am rechten Donauufer zu und
betrachtete erleichtert das altvertraute Bild – es war ihm zumute, als wäre er
heimgekehrt: ja, dies war die Vergangenheit! Reliquien gleich, lagen die
pietätvollen und guterhaltenen Ruinen unter dem Strahlenkranz der herbstlichen Sonne. Lange und beinahe
gerührt betrachtete er das Landschaftsbild von Buda: die bunte Farbenpracht
des Burggartens, das mattgoldene Laub der Kastanienbäume am Flußufer, die historischen
Gebäude, die Ehrwürdiges bewahrten und an Ehrwürdiges gemahnten, an etwas, das
für Kömüves mehr als nur Erinnerung und Tradition bedeutete.
    Er empfand innige Freude, als er die
edlen, ihm so vertrauten Ruinen der vom Baugerüst umgebenen Krönungskirche
betrachtete, die Amtsgebäude, die sich gleich Ritterburgen an den Berg
klammerten – all diese Bauten, in denen eine große Vergangenheit festgehalten
war. Dahinter duckten sich die stillen alten Stadtteile, deren Straßen noch
nach dem ursprünglichen Handwerk der Bewohner benannt waren. Mit alldem hatte
er etwas gemein: Er konnte es nicht glauben, daß der geschichtliche Gedanke,
der in dieser ein wenig schmetternd stolzen Burgfront über Zeit und Mode hinaus
versinnbildlicht war, dem Untergang anheimfallen sollte. Wenn jeder, so wie
auch er es tat, auf seinem Posten blieb, dann war die Familie, der er
angehörte, vielleicht doch noch zu retten – diese große Familie, auf die er
vereidigt war. Er blickte mit kurzsichtigen Augen nach rechts
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