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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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genau verzeichnet stand: Es war dies der
Augenblick, da er vor eineinhalb Jahren zwischen zwei Verhandlungen zum
erstenmal von einem sonderbaren Schwindel befallen worden war, der sich seitdem
in unregelmäßigen Abständen wiederholte. Dieses Schwindelgefühl war
erschreckend und beschämend zugleich, es gehörte nicht zu einem Richter und
auch nicht zu einem Bürger, und Christoph Kömüves verachtete sich dafür.
    Natürlich war es nicht seine Schuld,
selbstverständlich nicht. Eine physische Störung, ein vorübergehendes
Unwohlsein, Überarbeitung – so sagte auch der Arzt. Als nämlich der Anfall sich
ein zweites und sogar ein drittes Mal wiederholte, als er mittags mit einem
Taxi aus der Stadt heimkommen mußte, weil ihn der Schwindel während eines
Spaziergangs überrascht hatte, war er zum Arzt gegangen, um sich gründlich
untersuchen zu lassen. Es beruhigte ihn sehr zu erfahren, daß er keine
organische Krankheit habe und daß sein Herz gesund sei. In seiner Familie hatten
seine Verwandten sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits ein hohes Alter
erreicht, und er selbst hatte immer maßvoll gelebt. Es waren also Nervosität
und Erschöpfung. Seit einigen Monaten nahm er sich vor Nikotin in acht –
Rauchen war seine einzige Leidenschaft, und ihr wollte und konnte er nicht
völlig entsagen –, daraufhin fühlte er sich viel wohler. Es flimmerte nicht
mehr vor seinen Augen, es kribbelte nicht mehr in den Gliedern, und die
Schwindelanfälle hatten sich nicht mehr wiederholt.
    Eine mäßige
Lebensweise, weniger Zigarren und Zigaretten, etwas körperliche Bewegung,
leichter Sport, Spaziergänge – seit einigen Monaten ging er jeden Morgen zu
Fuß ins Amt und am Abend zu Fuß nach Hause –, das alles hatte zweifellos
geholfen. Das erniedrigende und beschämende Gefühl, daß jederzeit etwas geschehen
könnte, was nicht zu ihm gehörte und nun gleichsam aus dem Dunkel zum Vorschein
kam, wiederholte sich nicht mehr. Ein bitterer Nachgeschmack aber blieb in
seinen Nerven zurück. Ja, die Nerven! Jeder war heutzutage »nervös«, und
Kömüves verachtete die Nervosität, gab aber diese Meinung nie in Worten kund.
Ein anständiger, ehrenhafter Mann durfte nicht nervös sein, es sei denn, er
hatte ein Nervenleiden geerbt. Nervös zu sein war nur eine Ausrede, wohlfeile
Verteidigung einer Epoche, die damit eine strenge Verantwortung achselzuckend
von sich weisen wollte. Man war krank oder gesund,
keinesfalls aber nervös. Verächtlich blickte er auf diese nervöse klägliche
Welt, die nicht Herrin ihrer Wünsche war, diese unverantwortliche Welt –
verächtlich auch blickte er auf die »modernen« nervösen Ehen, aus denen Mann
und Frau leichtfertig zum Richter zu flüchten pflegten, und auf die »nervösen«
Verbrecher, die sich mit eingebildeten, aus der Kindheit stammenden seelischen
Schocks entschuldigten und dem Richter beteuerten, sie seien gegen ihren Willen
und ihre Absicht, aus Neigung und unwiderstehlichem Zwang zur Tat getrieben
worden. Nein, Kömüves glaubte nicht an unwiderstehlichen Zwang und lehnte
diese Ausrede ab.
    Das Leben
war eine Pflicht, die man zu erfüllen hatte, eine oft lästige und komplizierte
Pflicht, und manches war nur durch Selbstaufopferung zu ertragen. Er vermochte
diese Menschen wohl zu bedauern oder zu bemitleiden, konnte ihnen aber keine
Absolution erteilen. Er glaubte an den Willen. Der Wille war alles. Nur Wille
und freiwilliger Gehorsam, mit einem milderen Wort: Demut, christliche Demut,
konnte dem Menschen über die unerträglichen – war dieses Wort nicht
übertrieben, modern, überschwänglich? –, die schwer erträglichen Martern des
Lebens hinweghelfen.
    Unerträglich! Noch einmal wog er
diesen Ausdruck, denn er liebte es, mit dem Gewicht der Worte zu spielen, und
es wurde ihm zur Gewohnheit, den tiefen Sinn auch zufällig hingeworfener
Worte zu prüfen. Er war besonders streng solch verdächtigen Worten gegenüber,
die aus einem vom Verstand nicht gezügelten Bereich so vorlaut in Gespräche
oder Gedanken sprangen. War das Leben unerträglich? Kömüves schätzte die
Zivilisation, die mit ihren Lichtsignalen und Motorgeräuschen rings um ihn
blitzte und knatterte, nicht sehr hoch ein. Er kannte die einschränkende
Kraft dieser Zivilisation, er rechnete mit ihrer Zensur und achtete sie als
Geborgenheit, in welcher der Mensch mit seinen im Zaum gehaltenen Trieben
Unterschlupf fand. Diese Zensur hatte natürlich ihren Preis – könnte es aber
anders sein? Es war
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