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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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geborgen fühlte, und wie schon so oft ging er auch jetzt beinahe
mit Bedauern von hier fort, später als alle übrigen Richter, als verließe er ungern die
Arbeitsstätte, gleich dem Mönch, der nur zögernd aus dem Tor des Klosters in
die Welt hinaustritt.

2
    Er war für
den späten Nachmittag eingeladen – für eine Art Sieben-Uhr-Tee, der zugleich
Abendessen war. Die Gäste wurden mit Tee, Kaffee, Wein und kaltem Braten bewirtet.
Man kam und ging zwanglos, und die Gesellschaft blieb, an kleinen Tischen sitzend,
oft bis in die späte Nacht. Ein solch ungebundenes Zusammensein bedeutete für
die Gastgeber selbstverständlich Erleichterung und einen viel weniger strengen
Ablauf als die festlichen, ernsten Diners. Man lebte im Zeichen der
Sparsamkeit, und der Mittelstand, dieser mit einem Mädchen für alles
wirtschaftende, die gekürzte Pension oder das kleine Gehalt ängstlich und doch
geschickt einteilende gebildete höhere Mittelstand, der den Anschein der
würdigen und standesgemäßen Vornehmheit wahrte und in verwandtschaftlichem
Klassenbewußtsein fest und schamhaft zusammenhielt, versuchte mit solch
einfachen Lösungen die gelockerten Formen des geselligen Lebens zu wahren. Auch
Kömüves und seine Frau hatten schon einige Male ihre
Freunde zu solch modern-anspruchslosen Zusammenkünften geladen, die die einstigen
reichhaltigen Diners ersetzten. Diese Art der Gastfreundschaft ersparte den
Gastgebern und den Dienstboten doch ein wenig Kosten und Mühe.
    Unterwegs bedachte der Richter, wie
sehr sich doch in diesen Jahren alles veränderte, wie alles auseinanderfiel –
auch die Formen des geselligen Lebens.
    Er liebte
die bescheidene, gebildete Gesellschaftsklasse, deren Mitglied er war, und betrachtete
sie als eine große Familie. Er teilte ihre Neigungen und fühlte sich für ihr
Wohlergehen und ihre Sicherheit, sowohl in seinem Amt als auch im Privatleben,
verantwortlich.
    Gemächlich
schlenderte er über die Brücke, die nach Buda führte. Wie er so, die Hände auf
dem Rücken verschränkt, mit etwas vorgebeugtem Oberkörper, den Blick zu Boden
gerichtet, inmitten der eiligen, von der Arbeit heimkehrenden Passanten
einherging, wirkte er älter, als er war. Christoph Kömüves war frühzeitig ergraut
und hatte in den letzten Jahren, seit er in die Zentrale berufen worden war und
eigentlich den ganzen Tag sitzend verbrachte, ein wenig zugenommen. Dieser
körperliche Zustand war ihm nicht angenehm, denn in tiefster Seele verabscheute
er jede Lässigkeit, so auch das bequeme Sichgehenlassen des Körpers. Er neigte
zur Verherrlichung der Askese und betrachtete mit
Wohlwollen alle Arten des modernen Sports, davon überzeugt, daß, wer der
Bequemlichkeit und den leiblichen Wünschen allzusehr huldigt, auch seelisch
nachlässig wird und geistig verfettet. Zwar war er keineswegs dick zu nennen,
auch lebte er enthaltsam und mäßigte sich bei Essen und Trinken; seit einigen
Jahren aber nahm dieser Verfall, diese Lockerung in seinem Organismus,
überhand.
    Er
beobachtete diese Erscheinung mißtrauisch, verachtete sie ein wenig und
bekämpfte sie zeitweilig mit dem Entschluß, seine Lebensweise zu ändern. Wenn
er sich auch nicht zu einer jener modernen und jetzt so beliebten
Abmagerungskuren entschließen konnte, hielt er sie doch für weibisch und seiner
unwürdig, so ertappte er sich dennoch von Zeit zu Zeit dabei, daß ihn sein
körperlicher Zustand ernsthaft beschäftigte. Ja, er wirkte älter, als er war,
fast wie ein gesetzter Herr von mindestens vierzig Jahren, bereits ergraut und
mit dem Ansatz eines Bäuchleins. Gelegentlich scherzte er darüber mit guten
Freunden, die ihm sagten: »Ein Bauch bedeutet Ansehen.« Dies tröstete ihn, denn
er war stets bemüht, eine Würde auszudrücken – sei es nun in Bewegungen oder
Gesten –, mit der er von seiner Jugend ablenken wollte. Er betonte das Ansehen
des Bürgers und Richters in Auftreten, Sprechweise und Lebensführung.
    So
frühzeitig wie zu den grauen Haaren war er eigentlich zu allem in seinem Leben
gekommen: zu den ersten Stufen seiner
Karriere, zu der Gesetztheit, den Familiensorgen und zu Ansehen. Was war der
Grund zu dieser Hast? Vielleicht der Tod – so dachte er in trüben und unruhigen
Stunden –, vielleicht eine tiefe und geheime Todessehnsucht oder Todesangst,
und seit geraumer Zeit meinte er, diese beiden wären ein und dasselbe. Diese
Ansicht hatte er in einem ganz bestimmten Augenblick gewonnen, der im seltsamen
Tagebuch seines Privatlebens
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