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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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1
    Zu Anfang September war es noch sehr
heiß. An einem solchen Frühherbstnachmittag, der von Sonne durchglüht war,
studierte der junge Richter Christoph Kömüves in seinem Amtszimmer die Akten
der Scheidungsprozesse.
    Ein Fall erregte seine besondere
Aufmerksamkeit, weil er das Ehepaar, das am nächsten Tag geschieden werden
wollte, persönlich kannte. Der Ehemann, ein bekannter junger Arzt, Leiter des
Laboratoriums einer hauptstädtischen Heilanstalt, war sein Schulkamerad gewesen.
Sie hatten zusammen die Unterprima besucht und einander auch später noch bei
geselligen Anlässen des Universitätslebens, bei Bällen und Versammlungen
getroffen. Der Richter hatte stets gern an diesen bescheidenen, stillen, fast
schüchternen Schulgenossen zurückgedacht. Jetzt, als er die Akten durchblätterte,
stand die Gestalt des Arztes klar vor ihm: Er sah wieder den zwei- oder
dreiundzwanzigjährigen jungen Mann, wie er bei einem längst vergangenen
Universitätsball in der prächtigen Halle eines großen Hotels herumstand und mit
belegtem Lächeln und der hilflosen Geste des in der großen Welt nicht
beheimateten Menschen die freundlich-herablassenden Fragen der hohen Herren
beantwortete. In der Gruppe befand sich auch er, der junge Rechtspraktikant,
der plötzlich Sympathie für den schon fast vergessenen Schulkameraden empfand.
    Dies war der Augenblick einer jäh aufflammenden, durch nichts begründeten Zuneigung. Dann jedoch, als wären sie
durch unüberwindliche Schranken getrennt, gingen sie mit wenigen
oberflächlichen Worten und höflichem Lächeln aneinander vorbei. Die
unbeholfenen und zaghaften Annäherungsversuche wiederholten sich: Von Zeit zu
Zeit begegneten sie einander auf der Straße, begrüßten sich freundlich, wußten
aber zugleich, daß auch diese Begegnung nur zu einem flüchtigen Händedruck und
einigen verlegen gestammelten Worten führen würde, obgleich sie über mehr und
»anderes« sprechen wollten.
    Worüber eigentlich? Der Richter
verlor sich in Gedanken und trat versonnen ans Fenster. Vom Gefängnishof drang
das Rumpeln eines Lastwagens zu ihm hinauf. Er hörte die Befehle der
Gefängniswärter, dann den dumpfen Fall schwerer Gegenstände, wahrscheinlich
waren es Säcke. Diese Zeichen menschlicher Betriebsamkeit drangen in die
Stille seines Amtszimmers, dessen Fenster gegenüber der von kleinen Luftlöchern
unterbrochenen Feuerwand des Gefängnisses lag. Er, als
ein im Rang untergeordneter, am Anfang seiner Laufbahn stehender Beamter, hatte
vorerst diesen wenig komfortablen, im Sommer stickigen, an Winternachmittagen
schon frühzeitig dunklen Raum erhalten. Die straßenseitig gelegenen größeren
Zimmer wurden von den älteren und höhergestellten Beamten genutzt, und er hielt
dies auch für durchaus angemessen. Ja, nun sah er es deutlich, im Hofe hoben
Gefangene Säcke von einem Lieferwagen und verschwanden mit ihrer Last auf den
Schultern im Gänsemarsch hinter der Falltür des Untergeschosses.
    Der Richter arbeitete bereits seit
drei Jahren in diesem Zimmer und beobachtete täglich einige Minuten lang das
Leben und Treiben dort unten. Die Sträflinge wurden zum Spaziergang auf diesen
Hof geführt, die Angehörigen der Verhafteten und Verurteilten eilten in der
Besuchszeit hierher, und dies war auch der Weg der Gefangenen, wenn sie zum
Verhör oder zur Verhandlung ins Gerichtsgebäude bestellt waren. Bis zum
Überdruß kannte Kömüves die eintönige Melodie dieser traurigen, düsteren Welt,
aber es verging trotzdem kein Tag, an dem er sich nicht ans Fenster gestellt
und dem Treiben eine Weile zugesehen hätte, als wollte er sich immer wieder vom
Gleichmaß des Geschehens überzeugen.
    Das Leben im Gefängnishof schien ihm
wie der Betrieb in einer Fabrik, in der sich täglich, auf die
Minute genau, dasselbe vollzieht – und vielleicht ist das Vollzogene gar nicht
so furchtbar, wie der Außenstehende meint; es ist vielleicht nur traurig und
hoffnungslos. Immer wenn er die Feuerwand des Zuchthauses und den mit
Eisentüren gesicherten Hof sah, überkam ihn dieses Gefühl.
    Imre Greiner, Doktor Imre Greiner,
dachte er zerstreut, denn so hieß der Arzt, der sich jetzt von seiner Frau
scheiden lassen wollte. Kömüves las noch einmal aufmerksam die Personalien des
Arztes, suchte nach gemeinsamen Erinnerungen. Doktor Greiner stammte aus
Oberungarn, seine Vorfahren waren von Deutschland eingewandert. Er war, obwohl
ein Mitschüler von Kömüves, ein halbes Jahr älter und bereits im Juni
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