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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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und links. Worte
wie »Pflichterfüllung« waren für ihn mit einem sehr einfachen und unpathetischen
Inhalt erfüllt. Seine Überzeugung, mit der er sich als Angehöriger jener großen
Familie bekannte, war tief und ehrlich: Man
hatte bei der Tradition zu verharren, bei der schlichten Einfachheit der
Lebensweise, bei den korrekten Regeln des Zusammenlebens, man hatte festzuhalten
an der Gemeinsamkeit der Gefühle, des Willens und der Erinnerungen und alles
von sich zu weisen, was Auflösung, Zerfall, bedenkenlosen Ehrgeiz und
Unverantwortlichkeit bedeutete. Für ihn hatten die Worte »Demut« und
»Entsagung« noch ihren uralten, starken Sinn, sie wogen für ihn schwerer als
die Gebote der Religion. Ja, es gärte eine Unzufriedenheit in dieser Familie:
die Unzufriedenheit der jungen Generation, die sich nach gemeinsamen wohlklingenden
Schlagworten umsah, um sich verständlich zu machen.
    Die Jugend traf vor dem Abgrund der
politischen Extreme zusammen und hatte mit der Tradition nur die eine
Überzeugung gemeinsam, daß die gegenwärtig wirkende Generation mit ihren
knarrenden, gnädig wohltätigen Mitteln die soziale Unzufriedenheit nicht mehr
aufhalten könne.
    Die Jugend, die im Erdgeschoß wie
auch in den oberen Stockwerken dieser bürgerlichen Wohnbauten lebte, bereitete
sich auf etwas vor! Kömüves spürte diese Vorbereitung, und er wußte auch, daß
er dieser Jugend nicht mehr angehörte.

3
    Christoph Kömüves war an der Grenze
zweier Welten geboren: in dem schmerzlich verzerrten historischen Augenblick
der Jahrhundertwende. Das Bürgertum genoß noch reichlich und in Sicherheit das
Wohl des Familieneigentums, das Land, in seinen großen natürlichen Grenzen noch
nicht geschmälert, umschloß noch alle Klassen und Rassen. Die Besitzungen
schwelgten im Idyll des Friedens und wurden nur durch die Irrlichter
unterirdischer Bewegungen und das dumpfe Gemurmel entfernter Erdbeben vor der
sich nähernden Gefahr gewarnt. Wer aber nahm sich Zeit, darauf zu achten?
    Christoph wurde zu Beginn des
letzten friedlichen Jahrzehnts als Sohn einer wohlhabenden kleinadeligen
Beamtenfamilie geboren. Seine Mutter war aus der Zips, und von ihr erbte er
eine gewisse Weichheit, eine Empfänglichkeit für das Mystische und Unfaßliche,
doch mischte sich diese Neigung in seinem Charakter glücklich mit der
maßhaltenden Härte seines wortkargen Vaters, Gabriel Kömüves, der einer berühmten Richterfamilie entstammte. Der
Großvater Christoph Kömüves – der erste dieses Namens – war Septemviralrichter
des Landes, und ganz folgerichtig vererbte sich in der Familie der Richterberuf
vom Vater auf den Sohn. Aber die Kömüves wählten diesen Beruf nicht allein deshalb,
weil der Großvater ihn ausgeübt hatte und weil der Urgroßvater Rechtsanwalt und
Direktor, später sogar Consiliarius des Krongutes gewesen war, sondern weil sie
sich durch eine tiefe Neigung der Justiz, der Rechtspflege und dem Gesetz
verbunden fühlten. In den Reihen der heutigen Anwälte und Richter sprachen und
dachten viele in lateinischen Schnörkeln, und für viele bedeutete das Amt eher
eine Würde als einen Broterwerb. Es war eine Familie von Juristen, wie es so
viele Familien der ungarischen adeligen Intelligenz gab; ihre lateinische
Kultur zeigte sich noch an der Denkweise der Nachkommenschaft. Christoph
Kömüves, der Sohn des großen Senatspräsidenten, wurde selbstverständlich in
jenem strengen und konsequenten humanistischen Geist erzogen, der zur
Tradition gehörte. Der Vater heiratete zweimal. Aus der zweiten Ehe mit der
Tochter eines Késmárker Arztes stammte Christoph. Damals war der Vater schon
fünfzig Jahre alt und gelangte auf die Höhe seines Ansehens und seiner
Laufbahn.
    Die zweite Ehe, allen äußeren
Zeichen nach aus Neigung und Liebe geschlossen, endete unglücklich, oder zumindest nicht der
Regel entsprechend. Sie endete mit einem jeder Tradition und jedem Gesetz
widersprechenden Ereignis: Nach acht Jahren, als ihr Erstgeborener noch nicht
einmal seinen sechsten Geburtstag gefeiert hatte, verließ die Frau Mann und
Kind und heiratete einen städtischen Oberingenieur. Diesen Aufstand, diese
unfaßbare Eigenmächtigkeit seiner Mutter vermochte Christoph Kömüves nie ganz
zu verstehen.
    Der Vater wurde krank: die Rebellion
der Frau hatte ihn wohl in jener geheimnisvollen Gleichgewichtszentrale
verwundet, in der der Mensch verankert und völlig er selbst und unabänderbar
ist. Anscheinend aber konnte auch sie diese Flucht nicht
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