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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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hilflos-unbewußt ein wenig hoch, dann läßt sie ihn wieder auf
die Decke zurückfallen. »Schlafe nur«, denkt Christoph, »schlafe ruhig.«
    Er zieht die Türe hinter sich zu,
verläßt auf Fußspitzen diese Welt der lieben Wesen und geht in sein
Arbeitszimmer zurück. Was soll er jetzt beginnen? Es ist viel zu spät, um noch
zu schlafen. Bald beginnt wieder die Arbeit. Er fühlt sich ein wenig erregt wie
nach einer langen Reise. Wie einer, der nachts durch fremdes Land wanderte
und jetzt froh ist, weil ihn mit dem ersten Frühstrahl die wohlvertraute Heimat
grüßt. Ja, er wird ein Bad nehmen, sich rasieren, umkleiden und vielleicht
ausnahmsweise mit den Kindern zusammen frühstücken. Pünktlich um zehn Uhr –
denn da ist die erste Verhandlung angesetzt – wird er im Amt sein. Eine der
festgelegten Verhandlungen fällt heute vormittag aus. Jedenfalls wird er
pünktlich erscheinen, wird binden und lösen, versöhnen und trennen. Er
stellt sich ans Fenster und blickt auf die Straße. Nun werden im ersten Schein
der Morgensonne die Konturen immer klarer. Lange steht er so. Er hat wahrhaftig
das Gefühl, von einer nächtlichen Reise heimgekehrt zu sein. So ist es, wenn
man nach langer Wanderung endlich die Dächer der Heimatstadt erblickt. Der
Gefahr der Fremde, einer unbekannten, nur erahnten Gefahr, ist er diesmal
entronnen. Von nun an wird er noch mehr als bisher daheim bleiben und sich ganz
selten nur aus dem Hause begeben. Denn das ist die Wirklichkeit, diese Gebäude,
diese Straße und die schlafenden lieben Gesichter im Nebenraum, und die Arbeit!
Ja, heute nacht ist er einen weiten Weg gegangen. Man muß demütig leben, weil
zwischen Einschlafen und Erwachen ein unbekannter Wille wirkt. Aber er will an
die Welt glauben, die sichtbar ist und faßlich – sicher gibt es auch eine
andere, doch die kennt er nicht. Er will einer Familie und einer größeren
Gemeinschaft dienen, sie ist ihm kostbar, und ihr hat er den Eid geleistet. Er
will den göttlichen und den menschlichen Gesetzen dienen – der Rest ...
    Er streicht über seine Stirn, und
sein Blick wandert von der hellen Straße weg zu dem Bild »Christophs des
Ersten«. Der große Richter schaut gelassen und leidenschaftslos über die Zeit
hinweg, furchtlos und erhaben. Da ist es dem jungen Richter, als vernehme er
eine Stimme, von weit her und doch sehr klar: »Wache auf, Christoph
Kömüves, und bleibe stark! Bleibe demütig und streng! Deine Sache ist der Tag!
Wie wandelbar und unsicher auch die Erscheinungen der Welt sein mögen, du
sollst ihr Meister bleiben!«
    Er vergräbt
das Gesicht in beide Hände.
    Er weiß nicht, wie lange er so
steht. Es ist nur die Müdigkeit, die ihn lähmt, und sie wird wieder schwinden.
Bald wird Hertha erwachen, dann werden sie miteinander sprechen und die
altvertrauten, aufrichtigen Worte tauschen wie bisher. Ein Milchwagen rattert
über das Pflaster, und die Vögel halten ihren morgendlichen Sang. Im vollen
Schein der Frühe stehen die Häuser mächtig auf ihrem Platz. Selbst aus den
schmalen Gassen ist alle Angst genommen.
    Die Nacht
ist zu Ende. Es beginnt der Tag.
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