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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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aufgeregt, sie ist nicht überreizt. Sie redet
weiter, nüchtern, mit langen Pausen, großen Unterbrechungen. Gar nicht
sentimental, ohne leidenschaftliche Ausbrüche.« Der Arzt hält ein wenig inne.
»Jetzt kann sie bereits darüber sprechen«, setzt er dann fort und betrachtet in sich versunken wieder die
Zahnreihen des gehorsamen und geduldigen Teddy. »Eine solche Erkenntnis
erfordert Einsamkeit, tiefe Einsamkeit. Diese Einsamkeit wurde ihr zuteil, und
eines Tages ereignet es sich. Was? Beinahe hätte sie gesagt: die Begegnung. Die
Begegnung eines Menschen mit sich selbst. Es muß unheimlich sein ... Anna
erlebte diesen Augenblick. Man kann ihm nicht entfliehen. Sie sagt, es sei ein
unermeßliches Gefühl der Einsamkeit, und in jenem leeren Raum nähere sich
niemand, der behilflich sein könnte.
    Es beginnt
in Berlin, wo sie eines Tages von ihrem Anwalt die Verständigung erhält, für
wann der Termin des Scheidungsprozesses festgesetzt ist und wer der Richter
ist, der ihn führen wird. Der Richter heißt: Doktor Christopher Kömüves. Nun
wird es ihr plötzlich bewußt. Das ist nicht erstaunlich. Es ist wie ein Gebot,
wie ein Schlag. Staunenswert ist viel eher die Kraft, mit der diese Seele sich
so lange vor diesem Gebot verschlossen hat. Acht, neun Jahre! Anna zählt genau
nach: zehn Jahre und drei Monate.
    Damals sah
sie dich zum erstenmal auf einem Ball. Sie war zwanzig, du warst bereits
Richter, ein lediger junger Mann. Alles Weitere weißt du ja. Jetzt wenigstens
weißt du es schon. Verteidige dich nicht, dazu besteht kein Grund. Es
beschuldigt dich niemand. Niemand kann dafür. Nur, ich hätte eine Frage an
dich, eine einzige Frage. Ich habe sie vorher schon erwähnt. Vielleicht ...
verstehst du die Frage jetzt schon. Hast du in diesen acht oder zehn Jahren von
Anna geträumt?«
    Seine
Stimme ist demütig, bittend, sie gleicht beinahe der eines Bettlers. Kömüves
klopft mit dem Papiermesser dreimal auf den Tisch; dann wirft er es beiseite.
»Träume, was heißt das schon?« fragt er heiser, verächtlich. »Das Leben wird
nicht von Träumen gestaltet.« – »Natürlich nicht«, der Arzt beeilt sich, ihn zu
beruhigen. »Du hast ja recht. Träume haben keine gestaltende Kraft, zumindest
höchst selten nur. In der Wissenschaft, in der Kunst und in der Literatur gibt
es solche Beispiele – du hast aber durchaus recht – meist ist der Traum nur
Wirrnis. Er hat keinen Sinn. Sieh«, sagt er nun eindringlich und bittend, »ich
bin deswegen gekommen. Ich verlange nicht viel. Für dich ist es doch bedeutungslos
– aber ich möchte die Wahrheit wissen. In meiner Lage kann man kaum weniger
verlangen. Es ist, als würdest du auf der Straße einem Bettler einen Groschen
geben. Mir genügt dieser Groschen. Gestehe es ein ... Ach, was sage ich da!
Welch großes Wort! Erbarme dich meiner, denke nach, erinnere dich, und
beschenke mich mit dieser trüben, uninteressanten und für dich ganz
unbrauchbaren Wahrheit!
    Hast du in
all diesen Jahren von Anna geträumt?« Hartnäckig wiederholt er es. Der Richter
erschaudert und streckt seine starren Glieder, seit Stunden nun sitzt er
beinahe bewegungslos, und er
friert. »Träume«, sagt er nun sehr langsam, als müßte er jedes Wort aus einem
Urgestein brechen, »Träume, Unsinn«, wiederholt er schwerfällig und
schleppend. »Ja, ja«, versichert ihm der Arzt, »Träume sind nur ein Spiel von
Schattenbildern, Nebel – wir können nicht dafür. Hast du geträumt?« Der Richter
schaut in die Dunkelheit. »Zehn Jahre«, sagt er. »Du sagtest, zehn Jahre ...
Ich erinnere mich nicht!« – »Das glaube ich dir«, sagt der Arzt bereitwillig,
»man kann sich nicht an alle närrischen Träume erinnern, und wenn ich heute
nacht nicht zu dir heraufgekommen wäre, hättest du nie von alledem erfahren.
Manchmal vollbringt die Seele Wunder. Sie kann sich vor einem Gedanken, einer
Erinnerung, einem Verlangen vollkommen verschließen. Du siehst, auch Anna wußte
es lange nicht. Als sie dann diesem Wissen begegnete, als sie
alles erfuhr, so wie man die Wirklichkeit erfährt, etwa dies: daß man Arme und
Beine hat – da
konnte sie kaum verstehen, woher sie die Kraft und die Fähigkeit genommen hat,
sich zehn Jahre lang vor dieser Wirklichkeit zu verschließen. Sie beteuerte,
daß die Verdrängung beinahe vollkommen war. Freilich, die Träume ... Im Traum
schon gelang nicht so vollkommen, was bei Tag und Nacht zehn Jahre hindurch beinahe
immer gelang, wenn sie mit mir war und ich sie in
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