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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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seine Sache, Sache des Richters also, den Trieben zu
gebieten, die gegen die Disziplin der Zivilisation aufbegehrten.
    Nie zuvor
war das Amt des Richters zur Rettung und Erziehung der Gesellschaft so wichtig
gewesen wie eben in dieser unruhigen Epoche. Kömüves war sich seiner Aufgabe bewußt
und war bemüht, all sein Streben und all seinen Glauben in den Dienst dieser
Berufung zu stellen. Ein Richter hatte heute nicht mehr nur die Aufgabe, den
Schuldigen zu bestrafen und dem Unschuldigen zu seinem Recht zu verhelfen.
Heute handelte es sich um die Zivilisation schlechthin, um den Frieden einer
Gesellschaft, um die überkommenen Formen, deren Kraft bisher das Leben
erhalten und gestaltet hatten und die nicht durch geheim wirkende, verdächtige Hände zerstört und beschmutzt werden
durften. Er würde auf seinem Posten jedenfalls auf der Hut sein. Verdiente
aber diese Zivilisation eine solch schrankenlose Verteidigung? War sie
unschuldig? Hatte diese motorisierte, genußsüchtige Zivilisation noch diesen
Wert? Hing das seltsame Schwindelgefühl, das unbedeutende, gottlob in keinerlei
organischer Krankheit begründete Schwindelgefühl, diese verworrene, ein wenig
erniedrigende Auflehnung seiner Nerven, nicht vielleicht mit dem Zweifel
zusammen, den er gegen die Gültigkeit der herrschenden Formen, gegen den
moralischen Inhalt der um jeden Preis geschützten Zivilisation hegte?
    Dies waren Fragen, die Kömüves auf
dem Richterstuhl mit fester Stimme entschieden zurückgewiesen hätte – höchst
zeitgemäße Fragen aber, die vom geheimnisvollen Tiefwasser der Seele von Zeit
zu Zeit emporgespült wurden. An ein soziales Idyll glaubte er nicht mehr. Die
Gesellschaft war auf der Suche nach neuen Lebensformen, und ihm, dem Richter,
kam es zu, auf diejenigen zu achten, die, bewußt oder irrgeführt oder nur aus Feigheit
und Nervenschwäche, gegen die Zensur der alten Gesellschaft rebellierten.
    Er war ein noch junger Mann; und so,
wie er sich körperlich seinem Beruf, seiner Mission angepaßt hatte, so schuf
er sich auch eine seelische Form, in die er seine Ansichten und Zweifel legen
konnte. Er prüfte diese Anschauungen gründlich und übernahm für sie die volle
Verantwortung. Mit seinen Zweifeln blieb er für sich allein in seiner Welt,
der Welt der Familie und des Amtes. Niemand konnte ihn der Bequemlichkeit oder
der Feigheit beschuldigen, er gab sich nicht bedingungslos den Ansprüchen hin,
welche der Beruf, der Staat, die Gesellschaft ihm stellten. Kömüves senkte den
Blick nicht zu Boden, er war bemüht, seine Zweifel unerschrocken zu betrachten,
und er war sich der Verantwortung bewußt, die seine Unabhängigkeit und das
Richteramt ihm auferlegten. Streng und wortgetreu mußte er im Sinne des
Gesetzes urteilen, und manchmal, wenn er in den Abgrund dieser Zeit blickte,
hatte er das Gefühl, daß die Gesetze hinter der Zeit zurückblieben. Das Gesetz
hatte diese Auflösung, diesen Sturm, der die Grundfesten der alten Ordnung
erschüttert hatte, nicht vorgesehen. Das Gesetz in seiner unbarmherzigen
Folgerichtigkeit schien manchmal schwach und kraftlos gegenüber der Willkür
der Zeit. Er, der Richter, hatte die Buchstaben des Gesetzes mit zeitgemäßem
Inhalt zu füllen. Hinter jedem kleinen Prozeß stand das zur Grimasse verzerrte
Antlitz einer Generation, die von Aufbau predigte und mit beiden Händen im
Schutt der Zerstörung wühlte.
    Nun gehe hin und richte! – dachte er
oft. Er ging aber dennoch hin und sprach das Urteil nach seinem besten Wissen,
im Geiste des Gesetzes, untadelig. Welch ein Beruf! – dachte er manchmal ermüdet. Doch gleichzeitig
hob er den Kopf und sagte stolz: Ja, welch ein Beruf! Wie bedrückend und doch –
wie menschenwürdig! Hatte der ganze Apparat, die große juristische
Organisation, die ihn umgab und bei der der einzelne nur die Rolle des
empfindsamen kleinen Bestandteils spielte, dasselbe Gefühl wie er? Von den
alten Richtern, seinen Meistern, kannte er mehrere, die um diese Verantwortung
wußten. Sie empfanden wie er, daß es sich jetzt um das Ganze einer Generation
handelte – ja, über die Buchstaben des Gesetzes hinaus ging es um die
Neutralisierung einer handgreiflichen Gefahr. Man mußte die Gesellschaft
retten; nicht nur die Formen, sondern auch den Inhalt: die Erwachsenen, die
Kinder, das Monatsgehalt des Beamten, den Kredit des Kaufmanns. Sprach man
darüber auch innerhalb des »Apparates«? Selten. Er aber dachte daran, wenn er
ein Urteil verlas.
    Dachte er tatsächlich
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