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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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I
    Heruntergekommener Maschendraht stützt sich auf rostige Pfosten. Irgendwo im Gestrüpp fängt der Zaun an, irgendwo im Gestrüpp verläuft er sich. Irgendwann hat er irgendetwas umfriedet. Ein brauner Teppich mit grünem Ahornblattmuster hängt schwer an ihm, davor, oder ist es dahinter, duckt sich das Skelett eines Kinderwagens.
    Die Wolken hängen tief, soviel ist sicher, die Jahreszeit läßt sich nur mit Einschränkungen bestimmen, es ist nicht mehr kalt und noch nicht heiß, vielleicht aber auch umgekehrt, Frühling oder Herbst also. Auch das Jahr ist nicht mehr mit letzter Gewißheit zu rekonstruieren, weil die meisten hier die Vergangenheit, die jetzt ihre Gegenwart ist, nicht so genau nehmen. Täglich ist heute, morgen zu weit entfernt und gestern lange vorbei. Heute ist immerhin der Tag, an dem Monikas Erinnerung einsetzt.
    Die Hütten heißen Häuser, vier mal vier Meter im Schnitt, sie stehen auf Lehmgrund, das ist der Fußboden. Die wenigsten sind verputzt, Betonziegel, rote Ziegel aller Größen, zuweilen Steine sind aufeinandergefügt, von Mörtel findet sich auf den ersten Blick keine Spur. Eine flache Holzplankendecke in kaum zwei Meter Höhe, ihr aufgesetzt abenteuerliche, kreuz und quer vernagelte Bretterverschläge, die auf der wetterabgewandten Seite einen Meter aufragen. Wellblechdächer über schrägen Balken, darunter Stauraum für ein paar Habseligkeiten.
    Eine Tür und ein Fenster, ein einziges Zimmer. Ein Doppelbett, ein Einzelbett, ein Tisch, wackelige Stühle, ein Regal, eine Kochstelle. An der Wand von der Mutter selbst gemalte Bilder, Blumen, immer wieder Blumen. Auf dem festgestampften Boden tanzt Monika mit der Großmutter. Sie singen, halten sich an den Händen dabei, so fängt es an in ihrem Kopf, und alles stimmt.
    Monika tanzt eins mit sich und der Welt. Nein, es kann unmöglich Schneezeit sein. Sie sieht ihre nackten Füße unter sich hopsen, und im Winter stecken die in klumpigen Stofflappen, an Tanzen ist da nicht zu denken.
    Der kleine Bruder schläft ganz ruhig im großen Bett, wo er auch die Nacht verbringt, bei Vater, Mutter und der großen Schwester, die nicht richtig tanzen kann und sprechen. Die Mutter ist unterwegs, die große Schwester hat sie bei sich. Der Vater, ach, der Vater.
    Monika kuschelt sich nachts an die Großmutter im kleinen Bett. Einschlafen kann sie erst, wenn die Oma ihr mit dem Rücken des blauen Plastikkamms das Kreuzzeichen auf die Stirn drückt und auf romanes Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes amen murmelt. Nicht immer gibt es am Morgen ein richtiges Frühstück, nur frische Milch, die gibt es verläßlich. Gleich außerhalb der Romasiedlung, um die Ecke praktisch, befindet sich eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, Kolchose genannt, ein Bauern- und Landarbeiterkollektiv, wo auch Roma arbeiten.
    Monika soll in den Ortskindergarten gehen, der steht allen offen, selbstverständlich gratis, und ordentliche Mahlzeiten gibt es dort auch. Noch gibt es ja die sozialistische Tschechoslowakei, es muß irgendwann Mitte der achtziger Jahre sein. Aber Monika will nicht in den Kindergarten, sie will viel lieber bei Mutter und Großmutter bleiben. Manchmal gelingt es den Erwachsenen, sie zu überreden, meistens nicht.
    In ihrer Gruppe sind die meisten Kinder weiß, Monika spielt mit ihnen, aber sie will keine Weiße sein. Einmal küßt sie ein weißer Bub auf den Mund, sie kann sich nicht erklären warum. Die Tanten sprechen alle diese blöde Sprache, die gleiche wie die weißen Kinder und daheim die Mutter. Auch weil sie sich fremd fühlt, die ersten Monate nur gebrochen auf slowakisch antworten kann und fürs Romanessprechen Ohrfeigen kassiert, lockt sie der Kindergarten wenig. Und gehorchen muß man auch sonst andauernd, im Kreis sitzen und zählen üben zum Beispiel, wenn einem nach ganz etwas anderem der Sinn steht.
    Das schönste am Kindergarten ist das viele Spielzeug und das meist schmackhafte, reichliche Essen. Zuhause gibt es in dieser Hinsicht nicht gerade viel Abwechslung, in Wasser eingeweichtes Brot etwa, auf das die Großmutter Zucker streut. Dann wieder Nudeln mit Sellerie oder Gemüsesuppe oder Kartoffeln mit Salz. Das Wasser kommt nicht aus der Leitung wie im Kindergarten, sondern aus dem nahen See, abgekocht auf dem einfachen Herd, unter den die Großmutter Reisig schiebt, das Monika mit dem Bruder im nahen Wald sammelt. Elektrisches Licht, Radio, Fernsehen? Kein Gedanke daran.
    Zum Waschen dient ein
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