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Ein stuermischer Retter

Ein stuermischer Retter

Titel: Ein stuermischer Retter
Autoren: Anna Gracie
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1. KAPITEL
    Lang und beschwerlich ist der Weg, der aus der Hölle zum Licht führt.
    John Milton
    In der Nähe von Calais, Frankreich, September 1818
    Stimmen. Da waren Stimmen in der Dunkelheit, irgendwo in den Dünen. Männerstimmen.
    Faith Merridew setzte sich auf. Ein Licht tanzte oberhalb von ihr über den Sand.
    Es bewegte sich langsam und stockend auf ihr Versteck zu.
    „Où es-tu, ma jolie poulette? Wo bist du, mein hübsches Schätzchen?" Der Mann, wer immer er auch sein mochte, klang betrunken.
    Sie hörte, wie eine andere Person im Dunkeln stolperte und in einen der niedrigen Sträucher stürzte, die auf den Dünen wuchsen. Er fluchte. „Bist du sicher, dass sie dort ist?", fragte er auf Französisch.
    „Oui. Ich habe sie hineingehen und nicht wieder herauskommen sehen. Sie wartet in ihrem gemütlichen Nest auf uns." Der Sprecher lachte heiser auf, zwei andere Männer stimmten in sein Gelächter ein. Drei Männer also, wenn nicht noch mehr. Faith wollte nicht abwarten, bis sie darüber Gewissheit hatte. Sie packte ihren handgewebten Wollumhang und ihr Retikül, duckte sich und fing an zu laufen, so schnell sie konnte.
    Hinter ihr lag die Stadt und vor ihr - wer wusste das schon? Sie hatte jedoch nicht vor, in die Stadt zurückzukehren, schon gar nicht bei Nacht. Die Stadt bot ihr auch keine Zuflucht, das hatte sie auf unangenehme Weise bereits zu spüren bekommen. Die Stadt war voll von Männern wie diesen hier. Männer, die sie überhaupt erst dazu gebracht hatten, sich in den Dünen zu verstecken.
    Es gab keine Alternative. Sie lief auf den Strand zu.
    „Là-bas! Da unten!" Sie hatten sie entdeckt und nahmen die Verfolgung auf.
    Es gab keinen Grund mehr, sich möglichst lautlos zu verhalten. Sie fing an zu rennen, quer durch die struppigen Büsche und das Dünengras. Ihr Rock blieb an kleinen Ästen und spitzen Dornen hängen. Faith zerrte ihn frei, raffte ihn hoch und rannte weiter. Die Dornen zerkratzten ihre Beine, doch sie merkte es nicht. Hinter ihr trampelten die Männer durch das Gestrüpp, der Abstand zwischen ihnen und Faith verringerte sich.
    In diesem Moment stolperte sie über eine Wurzel und stürzte. Ein greller Schmerz durchzuckte ihr Gesicht. Einen Moment lang versuchte sie vergeblich Atem zu holen, doch dann strömte die Luft wieder in ihre Lungen, und Faith richtete sich mühsam auf. Sie lauschte in die Richtung, wo sie ihre Verfolger vermutete, und in dem Moment hörte sie etwas anderes. Musik. Leise, aber ganz in der Nähe.
    Wo Musik war, waren auch Menschen. Menschen, die ihr vielleicht helfen würden. Oder auch nicht. Vielleicht waren sie ja wie die Männer in der Stadt oder wie die, die sie jetzt verfolgten.
    Ihr blieb keine andere Wahl. Sie konnte sich nicht einfach wie ein Hase von der Meute jagen lassen. Sie musste es riskieren. Sie würde weiterrennen, geradewegs auf die Musik zu, und beten, dass sie dort Rettung fand.
    In der Musik hatte sie schon einmal Zuflucht gesucht. Und letztlich war sie ihr Untergang gewesen.
    Um noch schneller laufen zu können, rannte sie jetzt über den offenen Strand auf das Meer zu, dorthin, wo der Sand am festesten war. Bei jedem Schritt schmerzte ihr Knöchel unerträglich. Sie hörte Schreie hinter sich, als ihre Verfolger sie entdeckten. Faith rannte, rannte um ihr Leben, immer weiter in die Richtung, aus der die Musik ertönte.
    Ihre schweren Stiefel behinderten sie. Im dornigen Gestrüpp hatten sie ihre Füße geschützt - ihre eigenen dünnen Schuhe hätten das nie vermocht -, aber jetzt sog der Sand förmlich an ihnen. Faith hatte keine Zeit, stehen zu bleiben und die Stiefel auszuziehen. Ihr Atem ging keuchend, sie verspürte Stiche in der Seite, aber sie achtete nicht darauf.
    Sie umrundete eine kleine Landzunge. Ein Feuer flackerte am Fuß der Dünen. Schwer atmend rannte sie darauf zu. Ein Lagerfeuer mit einem Kessel darüber. Fischer?
    Eine einsame Gestalt saß am Feuer und spielte leise auf der Gitarre - eine spanisch anmutende Weise, die in die Nacht hinausströmte wie perlendes Wasser oder Wein. Ein Mann. Ein Zigeuner? Ein riesiger Hund erhob sich aus dem Schatten. Faith erstarrte. In der vergangenen Woche waren bereits zweimal Hunde auf sie gehetzt worden. Dieser hier war so groß, dass er ihr sicher mühelos die Kehle durchbeißen konnte.
    „Là-bas!" Ihre Verfolger stürmten um die Landzunge herum. Nichts, nicht einmal ein Höllenhund, konnte schlimmer sein als das, was diese Männer vorhatten. Das schiere Entsetzen trieb
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