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Schimmernder Rubin

Schimmernder Rubin

Titel: Schimmernder Rubin
Autoren: Ann Maxwell
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1
    Laurel Swann berührte den schimmernden Stein mit der Spitze ihres Zeigefingers. Er war glatt und kühl wie das Meer, und sie wünschte sich ihr Dasein wenigstens halb so sinnenbetörend.
    Doch dem war leider nicht so: Selbst dieser Achat erinnerte sie an das Unglück ihrer Vergangenheit und die unsichere Gegenwart. Er wies einen blassen bernsteinfarbenen Streifen auf, der genau die Farbe ihrer Augen und derer ihres Vaters wiedergab. Sie fragte sich, wo Jamie Swann war, ob es ihm gutging oder schlecht, ob er dünn war oder wohlgenährt, frei oder ein Gefangener in einem Land, dessen Name sich mit jeder Schlagzeile änderte.
    »Denk einfach nicht daran«, sagte sie mit der lauten Stimme, in der ein Mensch zu sich selber sprach, der oft alleine war. »Du kannst sowieso nichts tun. Er ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Verdammt, er ist alt genug, um in Rente zu gehen, sich eine Katze zuzulegen und seine Memoiren zu schreiben.«
    Bei diesem Gedanken lächelte Laurel. Wie ihre tote Mutter konnte auch sie nicht aufhören, sich um den Mann Sorgen zu machen, dessen fröhliches Grinsen und Sprungbereitschaft sie zu dem gemacht hatten, was sie heute war.
    Immer noch lächelnd nahm sie den Achat in die Hand und drehte ihn langsam herum. Das Licht, das durch das Nordfenster ihres verwitterten A-förmigen Häuschens fiel, ergoss sich über die Arbeitsbank und ließ den Stein schimmern, als enthielte er all den Sonnenschein, dessen er während unermesslicher Zeiträume hatte habhaft werden können, in der Brandung eines kalifornischen Strandes.
    Als professionelle Schmuckdesignerin hatte Laurel wesentlich wertvollere Steine - Diamanten und Opale, Rubine und Bergkristalle - im Safe ihrer Werkstatt, aber es bereitete ihr immer noch das größte Vergnügen, wenn sie einen reinen Achat am Strand vor ihrer Haustür fand.
    Laurel empfand ein solches Juwel als ein Gottesgeschenk, als einen Fingerzeig auf die Kräfte, die die Erde formten, auf die Verschmelzung der beständigen Felsen mit der rastlosen See.
    Der Stein in Laurels Hand war ein guter Achat. Wenn man in seine klaren Tiefen blickte, schaute man wie durch ein Fenster in eine andere Welt. Der strahlend goldene Bernsteinton des Achats wich an einer Seite einer leicht marmorierten Transparenz. Das Mineral wies dunkle Einschlüsse auf, winzige Zeugnisse seiner Vergangenheit, bewahrt in der kristallinen Form.
    Diese kleinen Fehler machten den Stein interessanter für Laurel als jede Makellosigkeit. Während sie ihn langsam im Licht drehte, entwarf ihr Kunstsinn ganz von allein ein Schmuckstück, eine schlichte, fließende Goldfassung, in der der Achat bestens zur Geltung käme. Steine waren ebenso einzigartig und individuell wie Menschen; die richtige Umgebung konnte ihre natürliche Schönheit noch erhöhen oder so gut wie zunichte machen.
    Für Laurel bestand darin die Faszination ihres Berufs. Jeder Entwurf war ihre persönliche Antwort auf die stumme Herausforderung dieser Kostbarkeiten, ihnen einen Rahmen zu schmieden, der ebenso ungewöhnlich und dauerhaft wie ihre Schönheit war.
    Das Rattern eines Lastwagens, der in die steil ansteigende Einfahrt bog, unterbrach ihren Gedankengang. Mit gerunzelter Stirn legte sie den Achat auf den Tisch und blickte aus dem Erdgeschossfenster ihres kleinen Hauses. Draußen stand ein Lieferwagen. Der Fahrer war netterweise direkt bis vor die Garage gefahren und hatte Laurel dadurch den Weg ins obere, auf Straßenhöhe gelegene Stockwerk erspart. Trotzdem freute sie sich nicht über den Besuch.
    »Blödmann«, murmelte Laurel. »Was soll das? Ich habe nichts bestellt. Und genausowenig erwarte ich, dass mir etwas zurückgebracht wird, aber leider kommt es trotzdem vor.«
    Sie verließ das Arbeitszimmer und öffnete die kleine Tür, die das Haus mit der Garage verband. Die Wohnräume lagen darüber, auf Straßenniveau. Sie waren seltsam angeordnet und winzig klein wie in vielen der Häuser, die einst als Wochenendhütten entstanden und erst mit Ansteigen der Grundstückspreise zu richtigen Wohnstätten umgestaltet worden waren.
    Draußen sprang der Fahrer vom Sitz und kam an die offene Garagentür. In der rechten Hand hielt er ein Unterschriftsbrett und unter dem linken Arm trug er ein rechteckiges Paket. Es war recht unhandlich, aber nicht besonders schwer.
    »Hi, Tom«, sagte Laurel, als der Mann näher kam.
    »Hallo, Miss Swann.«
    Obwohl Tom seiner Stimme einen möglichst zwanglosen Ton verlieh, sah er Laurel etwas zu lange an.
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