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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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Prolog
    Ich erinnere mich noch sehr genau an den Abend, an dem ich zusammen mit meiner damaligen Freundin zum Abschlussball unseres Tanzkurses unterwegs war. Auf dem Weg durch die Stadt sah ich zum ersten Mal in Deutschland einen Mann, der in einer Mülltonne nach Essbarem suchte. Den Abschluss­ball ließ ich platzen. Meiner Freundin aber war mehr nach Tanzen zumute als nach Gesellschaftskritik. Der Preis für meine Empörung bestand darin, als Single nach Hause zu gehen. Jetzt, viele Jahre später, nutze ich die Möglichkeit, mit diesem Buch erneut meiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Tanzen kann ich leider noch immer nicht richtig.
    Seit 2006 beschäftige ich mich intensiv mit dem, was mich damals, knapp volljährig, so verstörte. Mit der Frage, wie Armut im Reichtum möglich ist. Mein Interesse für diesen Skandal bekam eine für mich unerwartete Aktualität, als ich selbst prekär beschäftigt und von Arbeitslosigkeit bedroht war und darüber nachdachte, wie es weitergehen könnte. Ich beschloss, ein Jahr lang bei einer Lebensmittelausgabe zu hospitieren und exemplarisch eine dieser boomenden Hilfsorganisationen aus der Innenperspektive zu erkunden. Nach und nach wurde ich zu einem kritischen Beobachter des Systems der Lebensmitteltafeln, Suppenküchen und ähnlicher Angebote. Sie werden in diesem Buch zusammenfassend Armuts-, Almosen- oder Hartz- IV -Ökonomie genannt und versinnbildlichen die Armut mitten unter uns.
    Was zufällig begann, ist inzwischen fester Bestandteil meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. Zwischenzeitlich wurden einige meiner Thesen von Journalisten und von den Tafeln selbst aufgegriffen – wenn ich gut gelaunt bin, werte ich dies als Erfolg. Ich könnte mit dieser Rolle zufrieden sein. Nicht zufrieden bin ich hingegen nach wie vor mit der Gesellschaft, in der ich lebe. Dieses Buch schrieb ich aus Protest, als mir klarwurde, dass 2013 die Tafeln in Deutschland ihr 20-jähriges Bestehen feiern werden. Ich fragte mich, wie das wohl aussehen würde. Vielleicht wie im Herbst 2012, als ich zur 13-Jahr-Feier der Wiener Tafel in Österreich eingeladen wurde. Der Mode­rator wünschte allen Gästen »gute Unterhaltung bei einem höchst spannenden Thema«. Einen Abend lang standen die Themen ›Motivation älterer Ehrenamtlicher‹ und ›Tafelarbeit als Sinnstiftung‹ im Mittelpunkt. Ein Sozialforscher nannte die Wiener Tafel »vorbildlich«. Der Gründer der Wiener Tafel war begeistert vom Zuspruch anwesender Tafelhelfer. Kein Wort aber zu den Ursachen von Armut inmitten von Reichtum.
    War dies ein Vorgeschmack darauf, wie die feierliche Stimmung in Deutschland unter Tafelmenschen, Tafelsponsoren und tafelnahen Politikern aussehen könnte? Für viele, auch für die uninformierte Öffentlichkeit, wird das 20-jährige Bestehen der Tafeln in Deutschland ein Grund zum Feiern sein. Den zu erwartenden Jubel, die eingeübten positiven Selbst­darstellungen der Tafeln sowie die pathetische Rhetorik der Politik möchte ich jedoch nicht unwidersprochen hinnehmen. Vielmehr ist es an der Zeit, dem Selbstlob eine fundiertere ­Perspektive entgegenzusetzen. Denn trotz zwischenzeitlich ­geschärfter sozialwissenschaftlicher Instrumente lässt sich die Public-Relations-Watte, in die die Tafelbewegung gepackt ist, noch immer schlecht durchdringen. Ich habe wenig Lust, mich dem arrangierten Schulterklopfen anzuschließen – lieber möchte ich eine öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie es sich aus der Sicht Armutsbetroffener anfühlt, seit vielen Jahren Teil dieses Systems zu sein. Und darüber, wie durch Tafeln und ähnliche Angebote die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich fortgeschrieben wird.
    Dafür gibt es aus meiner Sicht gute Gründe. Die seit fast ­einer Generation mitten in Deutschland existierenden Tafeln werfen ernsthafte moralische Fragen auf, bei denen es im Kern um die existentielle Verletzbarkeit des Menschen geht. Um Rechte, die Bürgern dieses Landes (sowie in den deutschsprachigen Nachbarländern Schweiz und Österreich, wo Tafeln nach vergleichbaren Prinzipien betrieben werden) zunehmend aberkannt werden. Zentrale Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Verantwortung, Nachhaltigkeit sowie einem zivilisierten Menschenbild stehen auf dem Prüfstand.
    Daher verfolgt dieses Buch das Ziel, einen Ausweg aus dem eher technokratischen Verständnis des Sozialen zu suchen. Wenn die Zivilgesellschaft die Versäumnisse des Sozialstaats kompensieren muss und sich Daseinsfürsorge vermehrt
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