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Sanctus

Sanctus

Titel: Sanctus
Autoren: Simon Toyne
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war wieder klar und scharf.
    Und er wusste, was er zu tun hatte.

K APITEL 7
    Über zehntausend Kilometer westlich von Trahpah stand eine schlanke, blonde Frau mit feinen nordischen Zügen im Central Park, eine Hand auf dem Geländer der Bow Bridge, in der anderen einen Brief, der an Liv Adamsen adressiert war. Er war vom wiederholten Betrachten zerknüllt, aber noch ungeöffnet. Liv blickte auf die graue, wabernde Skyline von New York im Wasser und erinnerte sich an das letzte Mal, als sie hier gestanden hatte. Das war mit ihm gewesen, beide als Touristen, und die Sonne hatte geschienen. Jetzt schien sie nicht.
    Der Wind wirbelte die Wasseroberfläche auf und trieb die paar vergessenen Ruderboote am Steg gegeneinander. Liv steckte sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr und schaute wieder auf den Umschlag hinab. Ihre scharfen grünen Augen waren ausgetrocknet vom Wind und der Anstrengung, nicht zu weinen. Der Brief war vor fast einer Woche in ihrer Post aufgetaucht. Wie eine Viper hatte er zwischen den üblichen Kreditkartenabrechnungen und Pizzaservicekarten gelauert. Zuerst hatte Liv ihn für eine weitere Rechnung gehalten, doch dann hatte sie den Absender gesehen. Beim Inquirer bekam sie solche Briefe dauernd, Hardcopys von Informationen, die sie für was auch immer für eine Story brauchte, an der sie gerade arbeitete. Dieser Brief hier kam vom Standesamt, wo die heilige Dreifaltigkeit des menschlichen Lebens verwaltet wurde: Geburt, Hochzeit, Tod.
    Vor Schock wie benommen hatte Liv den Brief einfach in ihre Tasche gestopft, und dort war er seitdem begraben gewesen, versteckt zwischen Quittungen und Notizbüchern, dem Stoff ihres Lebens. Er hatte auf den richtigen Moment gewartet, geöffnet zu werden, obwohl dieser Augenblick niemals kommen würde. Schließlich, nach einer Woche, in der Liv ihn immer wieder gesehen hatte, wenn sie nach ihren Schlüsseln oder ihrem Handy gekramt hatte, hatte irgendetwas in ihrem Kopf geflüstert, und sie hatte früh zu Mittag gegessen und einen Zug von New Jersey ins Herz der großen, anonymen Stadt genommen. Dort kannte sie niemand, und die Erinnerungen, die die Stadt in ihr weckte, passten zu den Umständen. Außerdem würde niemand auch nur mit der Wimper zucken, sollte sie hier unvermittelt den Verstand verlieren.
    Liv verließ die Brücke, ging zum Ufer und holte ein Päckchen Lucky Strike aus ihrer Tasche. Mit der Hand schützte sie das Feuerzeug vor dem Wind und zündete sich eine Zigarette an. Dann stand sie einen Augenblick lang einfach nur am Ufer, atmete den Rauch ein und lauschte den gegeneinanderschlagenden Booten und den fernen Geräuschen der Stadt. Schließlich steckte sie den Finger unter die Umschlagklappe und riss sie auf.
    Im Inneren befanden sich ein Brief und ein gefaltetes Dokument. Layout und Sprache waren Liv nur allzu vertraut, doch die Worte waren auf schreckliche Art anders. Ihr Blick huschte über den Text hinweg, und sie las ihn mehr in Clustern, denn als Ganzes:
    ... achtjährige Abwesenheit ...
    ... keine neuen Beweise ...
    ... offiziell für tot erklärt ...
    Liv faltete das Dokument auseinander, las seinen Namen und fühlte, wie irgendetwas in ihr nachgab. Die verdrängten Emotionen der vergangenen Jahre brachen mit aller Gewalt an die Oberfläche. Liv begann, unkontrolliert zu schluchzen. Ihre Tränen waren jedoch nicht nur Tränen der Trauer – die hieß sie seltsamerweise sogar willkommen –, sie weinte auch ob der Einsamkeit, die sie plötzlich empfand.
    Liv dachte an den letzten Tag zurück, den sie mit ihm verbracht hatte. Wie ein Paar Hinterwäldler waren sie durch die Stadt getourt. Sie hatten sich sogar eines der Boote gemietet, die jetzt kalt und leer am Steg lagen. Liv versuchte, die Erinnerung daran heraufzubeschwören, doch über Bruchstücke kam sie nicht hinaus: die Bewegungen seines großen, sehnigen Körpers beim Rudern, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, sodass die hellblonden Haare auf seinen leicht gebräunten Armen zu sehen waren; die Farbe seiner Augen und die Art, wie die Haut um sie herum sich in Falten legte, wann immer er lächelte. Sein Gesicht blieb jedoch verschwommen. Einst war es ständig präsent gewesen. Liv hatte nur seinen Namen aussprechen müssen, und schon hatte sie es gesehen. Aber heutzutage erschien meist ein Betrüger, der dem Jungen, den sie einst gekannt hatte, zwar ähnelte, doch er war es nicht.
    Verzweifelt versuchte Liv, sich zu konzentrieren und der Erinnerung Gestalt zu verleihen,
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