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Sanctus

Sanctus

Titel: Sanctus
Autoren: Simon Toyne
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und schließlich erschien tatsächlich ein echtes Bild. Sie sah ihn als Jungen, der mit viel zu großen Rudern auf dem See nicht weit von Granny Jansens Haus kämpfte. Granny Jansen hatte sie aufs Wasser hinausgeschickt und ihnen hinterhergerufen: »Eure Vorfahren waren Wikinger. Erst wenn ihr das Wasser beherrscht, werde ich euch wieder an Land lassen ...«
    Sie hatten den ganzen Nachmittag auf dem Wasser verbracht und sich beim Rudern abgewechselt, bis das hölzerne Boot sich wie ein Teil von ihnen angefühlt hatte. Granny hatte ein Siegespicknick für sie im von der Sonne warmen Gras vorbereitet und sie Ask und Embla genannt nach den ersten Menschen, die die nordischen Götter aus umgestürzten Bäumen geschnitzt hatten. Anschließend hatte Granny Jansen ihnen dann aufregende Geschichten aus der Heimat ihrer Vorfahren erzählt, Geschichten von wütenden Eisriesen, mächtigen Walküren und Wikingerbegräbnissen in brennenden Langschiffen. Später, als sie in der Dunkelheit ihres Dachzimmers auf den Schlaf gewartet hatten, hatte er Liv zugeflüstert, er wolle einmal genauso aus dieser Welt gehen, nachdem er in irgendeiner heldenhaften Schlacht gefallen war. Er wollte, dass sein Geist sich mit dem Rauch eines brennenden Schiffes vermischte und nach Walhalla aufstieg.
    Liv schaute wieder auf das amtliche Dokument hinunter, das ihn offiziell für tot erklärte. Das war kein heldenhafter Tod durch Schwert oder Speer; das war ein Tod per behördlichem Dekret aufgrund von durchgehender Abwesenheit über einen gesetzlich bestimmten Zeitraum hinweg. Liv faltete das Papier mit geübtem Geschick und so, wie sie es aus ihrer Kindheit kannte. Sie faltete ein Boot und setzte es aufs Wasser. Dann legte sie die Hand um das papierene Segel und zündete es mit ihrem Feuerzeug an. Als das trockene Papier zu brennen begann, stieß sie das Boot sanft auf den See hinaus. Kurz flackerten die Flammen und suchten nach neuer Nahrung; dann verloschen sie im kalten Wind. Liv schaute dem kleinen Boot hinterher, bis es schließlich im grauen Wasser kenterte.
    Sie rauchte eine weitere Zigarette und wartete darauf, dass das Boot endlich sank, doch es blieb einfach auf dem Spiegelbild der Stadt liegen ... wie ein Geist, der im Limbo gefangen war.
    Das ist wirklich kein tolles Wikingerbegräbnis ...
    Liv drehte sich um und ging wieder in Richtung Zug, der sie nach New Jersey zurückbringen würde.

K APITEL 8
    »Nehmen Sie sich bitte kurz Zeit, um zuzuhören, meine Damen und Herren«, bat der Reiseführer seine glasig dreinblickenden Schützlinge, die zur Zitadelle emporstarrten. »Lauschen Sie dem Sprachengewirr um Sie herum: Italienisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Niederländisch ... In all diesen Sprachen wird die Geschichte dieses Ortes erzählt, der ältesten kontinuierlich besiedelten Stadt der Erde. Und fühlen Sie sich angesichts dieses Sprachengewirrs nicht auch an die Legende vom Turmbau zu Babel erinnert, meine Damen und Herren? An jene berühmte Geschichte aus dem Buch Genesis, in dem von einem gewaltigen Turm die Rede ist, der nicht zum Ruhme Gottes, sondern dem der Menschen errichtet worden ist? Wie Sie sich sicher erinnern, wurde Gott ob dieser Anmaßung wütend, ›verwirrte‹ die Sprache der Menschen, wie es heißt, und verstreute sie über die ganze Welt, während der Turm unvollendet blieb. Heutzutage glauben viele Gelehrte, dass sich die Legende auf die Zitadelle hier in Trahpah bezieht. Bitte, beachten Sie dabei, dass es in dieser Legende um ein Gebäude geht, das nicht zum Ruhme Gottes errichtet worden ist. Wenn Sie jetzt zur Zitadelle hinaufsehen, meine Damen und Herren«, dramatisch deutete er auf die gewaltige Struktur, »dann wird Ihnen auffallen, dass nach außen hin nichts auf ihren religiösen Zweck hindeutet. Keine Kreuze, keine Engelsbilder, überhaupt keine Ikonografie, egal welcher Art. Allerdings kann der äußere Eindruck auch täuschen, und so ist das auch hier: Trotz des fehlenden religiösen Schmucks ist die Zitadelle von Trahpah ohne Zweifel ein Haus Gottes. Innerhalb ihrer geheimnisvollen Mauern ist die allererste Bibel geschrieben worden, und die war der spirituelle Grundstein des Christentums.
    Tatsächlich ist die Zitadelle das ursprüngliche Zentrum der christlichen Kirche. Dass dieses Zentrum im Jahre 326 n.Chr. nach Rom verlegt wurde, hatte lediglich den Zweck, der sich schnell und stetig ausbreitenden Kirche einen politischen Fokus zu geben. Wie viele von Ihnen waren schon im
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