Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sanctus

Sanctus

Titel: Sanctus
Autoren: Simon Toyne
Vom Netzwerk:
ungehindert in die Nacht rauschte.
    Samuel packte die Kante und zog sich nach oben. Mit tauben, geschundenen Füßen stieß er sich ein letztes Mal ab und wuchtete sich auf den Fels, der so kalt war wie der Tod. Vorsichtig kroch er ins Zentrum der Felsplatte und tastete die Ränder ab. Sie war nicht größer als die Zelle, aus der er entkommen war, aber während er dort unten ein hilfloser Gefangener gewesen war, fühlte er sich hier wie immer, wenn er einen scheinbar unbezwingbaren Gipfel erklommen hatte: ekstatisch und schier unglaublich frei.

K APITEL 5
    Die Frühlingssonne stieg früh und klar über den Horizont und warf lange Schatten ins Tal. Um diese Jahreszeit erhob sie sich über die roten Gipfel des Taurusgebirges und schien direkt auf den großen Boulevard, der ins Herz der Stadt führte, wo die Straße, die die Zitadelle umrundete, ihn mit drei weiteren antiken Hauptstraßen verband. Alle vier Straßen zusammen bildeten dabei exakt eine Kompassrose.
    Mit der Sonne erklang der traurige Ruf des Muezzins von der Moschee im Osten der Stadt. Er rief die Gläubigen zum Gebet, so wie er es immer getan hatte, seit die einst christliche Stadt im 7. Jahrhundert an die Araber gefallen war. Gleichzeitig traf der erste Touristenbus des Tages ein. Verschlafen und übellaunig vom frühen Aufstehen sammelten sich die Touristen am Fallgatter.
    Während sie dort standen und gähnend auf den Beginn ihrer Kulturtour warteten, verhallte der Ruf des Muezzins und wich einem anderen, unheimlichen Geräusch, das durch die antiken Straßen jenseits der schweren Holztore zog. Es war ein Geräusch, das jedem der Touristen bis in die Knochen drang, ihre intimsten Ängste weckte und sie instinktiv die Mäntel enger ziehen ließ. Es klang wie ein Insektenschwarm, der tief im Inneren der Erde zum Leben erwacht war, oder ein großes Schiff, das zerbrach und in der Stille des bodenlosen Meeres versank. Ein paar der Touristen schauten einander nervös an, und sie schauderten unwillkürlich, bis das Geräusch schließlich die Form eines Summens hunderter männlicher Stimmen annahm, die heilige Worte in einer Sprache intonierten, die niemand verstand.
    Plötzlich rührte sich das riesige Fallgatter, und die meisten Touristen erschraken, als Elektromotoren es an verstärkten Stahlkabeln hochzogen, die im Mauerwerk verborgen waren, um das antike Bild nicht zu stören. Das Dröhnen der Elektromotoren übertönte den Gesang der Mönche, und als das Fallgatter schließlich einrastete, war der Gesang verstummt, und das Touristenheer drang schweigend in die steilen Straßen vor, die zur ältesten Festung der Welt führten.
    Sie suchten sich ihren Weg durch ein komplexes Labyrinth aus Kopfsteinpflasterstraßen und trotteten mit stetem Schritt an den Badehäusern vorbei, wo man schon lange, bevor die Römer die Idee übernommen hatten, das wundersame Heilwasser von Trahpah genossen hatte. Dann ging es an alten Waffenkammern und Schmieden vorüber, die inzwischen Restaurants und Souvenirläden beherbergten, wo man Nachbildungen des Heiligen Grals, abgefülltes Heilwasser und Kruzifixe verkaufte, und schließlich erreichten sie den Hauptplatz, der auf einer Seite von einer riesigen Kirche eingerahmt war, dem einzigen heiligen Haus, das zu betreten ihnen auf dem Stadtgebiet erlaubt war.
    Wenn sie die Fassade hinaufschauten, bemerkten einige der unverschämteren Touristen den Kirchendienern gegenüber immer wieder, dass die Zitadelle ja ganz und gar nicht so aussehe wie in den Reiseführern. Wenn man sie dann auf einen imposanten Torbogen auf der anderen Seite des Platzes hinwies, drehten sie sich um, und vor lauter Staunen klappte ihnen das Kinn herunter. Grau, monumental und gewaltig erhob sich dort ein Felsenturm vor ihnen, geformt aus Rampen, Wehrgängen und Bastionen und hier und da von einem Buntglasfenster durchbrochen, dem einzigen Hinweis auf den heiligen Zweck des Bergs.

K APITEL 6
    Dieselbe Sonne, die auf die langsam vorrückende Touristenarmee schien, wärmte auch Samuel, der vierhundert Meter über ihnen reglos auf dem Felsen lag.
    Mit der Wärme kehrte auch allmählich das Gefühl wieder in seine Glieder zurück und damit auch der Schmerz. Samuel setzte sich mühsam auf und verharrte so einen Moment lang, die Augen noch immer geschlossen und die zerschundenen Hände flach auf die Felsplatte gedrückt. Schließlich öffnete er die Augen wieder und blickte auf die Stadt hinunter.
    Er begann zu beten, wie er es immer tat, wenn er es sicher
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher