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Sanctus

Sanctus

Titel: Sanctus
Autoren: Simon Toyne
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...« Er hörte einfach nicht auf, sich über den Kopf zu streichen.
    »Was?«, schnappte der Abt.
    »Es ist nur ... Bruder Samuel klettert nicht den Berg hinunter .« Endlich nahm Athanasius die Hand herunter. »Er klettert hinauf .«

K APITEL 3
    Der schwarze Wind wehte durch die Nacht, glitt über die Gipfel und den Gletscher zur Ostseite der Stadt und trug die prähistorischen Reste freigelegter Moränen mit sich.
    Je tiefer er auf die Ebene von Trahpah herniederging, desto mehr legte er an Geschwindigkeit zu. Er flüsterte durch die antiken Weinberge, Oliven- und Pistazienhaine an den unteren Hängen und hielt auf den Neonschein der riesigen Stadt zu, wo er die Baldachine flattern ließ und an der rot-goldenen Sonnenfahne Alexanders des Großen, dem Vexillum der vierten römischen Legion und all den anderen Standarten der frustrierten Armeen zerrte, die den düsteren Berg erfolglos belagert hatten, um an sein Geheimnis zu gelangen.
    Und der Wind wehte weiter, jetzt über den breiten, geraden Ost-Boulevard, vorbei an der von Suleiman dem Prächtigen erbauten Moschee und über den steinernen Balkon des Hotels Napoleon. Einst hatte der große General dort gestanden, während seine Armee die Stadt geplündert hatte. Auch er hatte nur zum Berg hinaufschauen können. Erobern konnte er ihn nie. Der Felsendolch war wie ein Dorn in der Seite von Napoleons unvollständigem Reich gewesen, und auch später noch, auf dem Sterbebett im Exil, hatte er ihn in seinen Träumen geplagt.
    Der Wind rauschte weiter gen Osten, über die hohen Mauern der Altstadt hinweg, und zwängte sich durch enge Straßen, die einst das Vorrücken des Feindes hatten behindern sollen.
    Schließlich wehte er über die Stadtmauer, ließ das Gras im heutzutage ausgetrockneten Wassergraben rauschen und traf schließlich auf den Berg, in den er nicht eindringen konnte. So stieg er senkrecht auf und fand schlussendlich die einsame Gestalt in der dunkelgrünen Soutane eines Ordens, den man seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte, und die sich langsam, aber unbeirrt die steile, vereiste Wand hinaufbewegte.

K APITEL 4
    Samuel hatte schon seit sehr, sehr langer Zeit nichts so Herausforderndes mehr erklettert wie die Zitadelle. Jahrtausende voller Hagelstürme und eiskaltem Wind hatten den Fels so blank poliert wie Glas, sodass Samuel kaum einen Halt fand, während er sich zum Gipfel hinaufquälte.
    Und dann war da die Kälte.
    Der eisige Wind drang ihm bis ins Herz. Seine Haut gefror bei jedem Kontakt, sodass er ein paar Augenblicke lang Halt hatte, bis er sie wieder losreißen musste, um nicht festzukleben. Der Wind tobte um ihn herum und versuchte, ihn mit unsichtbaren Fingern in den Tod zu reißen.
    Der Strickgürtel, den er sich um den rechten Arm geschlungen hatte, scheuerte die Haut von seinem Handgelenk, denn er musste das Seil immer wieder nach oben, zu winzigen Vorsprüngen werfen, die er ansonsten nie erreicht hätte. Jedes Mal zerrte er hart am Seil, bis die Schlinge sich um was auch immer festgezogen hatte. So arbeitete er sich Zentimeter für Zentimeter mit schierer Willenskraft den unbezwingbaren Monolithen hinauf.
    Die Zelle, aus der er entkommen war, lag nicht weit entfernt von der Kammer, in der das Sakrament vollzogen wurde, im obersten Teil der Zitadelle. Je höher Samuel kam, desto weniger lief er Gefahr, in die Nähe einer anderen Zelle zu kommen, wo die Mönche vielleicht auf ihn warten würden.
    Plötzlich wurde der bis jetzt so harte und glasige Fels zerklüftet und brüchig. Samuel war zu einer anderen geologischen Schicht vorgestoßen. Hier fanden sich tiefe Spalten im Fels, was das Klettern erleichterte, aber auch riskanter machte. Zwar fand Samuel hier öfter einen Halt, doch der konnte plötzlich wegbrechen. Er stieß seine Finger aus Angst und Verzweiflung tief in die Spalten hinein. So hielten sie sein Gewicht, aber sie rissen ihm auch das Fleisch auf.
    Je höher er kam, desto stärker wurde der Wind, und die Felswand bog sich langsam nach vorne. Die Schwerkraft, die ihm bis hierhin geholfen hatte, drohte nun, ihn vom Berg herunterzuziehen. Zweimal, als ein Stück Fels in seiner Hand brach, bewahrte ihn nur das Seil um sein Handgelenk und die kraftvolle Überzeugung, dass die Reise seines Lebens noch nicht vorüber war, vor einem Sturz in die Finsternis.
    Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, tastete Samuel nach dem nächsten Halt und fand nur Luft. Seine Hand fiel auf eine gerade Fläche, über die der Wind
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