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Wir wollen Freiheit

Wir wollen Freiheit

Titel: Wir wollen Freiheit
Autoren: Julia Gerlach
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|7| Einleitung
    N eulich gab es in unserem Viertel ein Konzert: Jungs mit Bob-Marley-Frisur schrummelten auf ihren E-Gitarren und die Jugendlichen im Publikum wippten im Takt; mitten auf der Straße und bis spät in die Nacht. Unglaublich. Wilde Konzerte von Bands, deren Musik schräg und deren Texte bitterböse sind, so etwas hat es in Kairo bisher nicht gegeben. Oder wenn, dann kam ziemlich schnell die Polizei. Das hat sich geändert: In diesem Frühling blüht die Kulturszene richtig auf. Willkommen im neuen Ägypten!
    Einige Wochen zuvor an der amerikanischen Botschaft: Männer mit rotgefärbten Bärten und Frauen mit Gesichtsschleier fordern die Freilassung des blinden Scheichs Omar Abdel Rahman, der wegen Terrorverstrickung in einem U S-Gefängnis sitzt. Diese Demonstranten galten bisher als Terroristen, wurden im Gefängnis gefoltert oder standen unter Hausarrest. Jetzt stehen sie hier im Botschaftsviertel von Kairo und rufen ihre Parolen. Die Polizei steht daneben und schaut zu. In diesem Frühling gibt es ungeahnte Freiheiten. Wie gesagt: Willkommen im neuen Ägypten!
    Die Revolution am Nil ist nicht nur eine politische Revolution. Sie hat nicht nur die Regierung gestürzt, sie hat auch die Gesellschaft durcheinandergewirbelt. Es sind Freiräume entstanden. Freiräume für unabhängige Kultur, aber Freiräume auch für jene Kräfte, denen genau diese Kultur ein Dorn im Auge ist: Im neuen Ägypten melden sich islamische Gruppen zu Wort, die lange unterdrückt waren. Männer mit langen Bärten und Frauen mit Schleier, plötzlich scheinen sie überall zu sein und das macht vielen liberalen Muslimen und Christen in Ägypten Sorgen. Vor allem, weil niemand |8| genau weiß, was sie eigentlich wollen. Sie widersprechen sich, fordern heute dies und morgen jenes. Auch das ist neu und ein gutes Zeichen. Es wird diskutiert und gestritten: Was will der Islam und welche Rolle soll er in der neuen Zeit spielen? Der Arabische Frühling ist – so die These dieses Buches – auch ein Islamischer Frühling. Die Konsequenzen dieser Entwicklung werden mindestens so einschneidend sein wie die des Sturzes der Regierungen von Tunis, Kairo und Sanaa.
    Ägypten war schon immer Trendsetter in der Region. Ganz besonders in Islamfragen. Hier entstand 1928 die
Muslimbruderschaft
, von hier kommt der neue Chef von
Al Kaida
und von Kairo aus verbreitete sich auch im vergangenen Jahrzehnt der coole neue Pop-Islam mit seiner Kopftuchmode und frommen Pop-Sängern. Auch die Entwicklungen dieses Frühjahrs – das ist absehbar – werden auf den Rest der islamischen Welt abfärben. Erste Impulse sind sogar schon jetzt in Deutschland angekommen, wie Gespräche mit jungen Muslimen belegen.
    Die Umwälzungen in der Gesellschaft und gerade die Neuorientierung der Religiösen bedeutet für Europa eine große Chance: Das Freund-Feind-Raster des vergangenen Jahrzehnts, geprägt durch den Krieg gegen den Terror und den tiefer werdenden Graben zwischen dem Westen und dem Islam, beginnt zu bröckeln; zumindest auf der südlichen Seite des Mittelmeeres. Nicht mehr der 11.   September 2001 mit allen seinen negativen Elementen soll in Zukunft das Bezugsdatum sein, wenn es um die Beziehungen zwischen der Islamischen Welt und dem Westen geht. Mit dem Arabischen Frühling hat eine neue Zeit angefangen. Junge Araber haben nicht mehr das Gefühl sich rechtfertigen zu müssen dafür, dass eine Minderheit ihre Religion für den Terror missbraucht. »Habt ihr eure Meinung über uns jetzt geändert?«, ist eine vielgestellte Frage in dieser Zeit. Sie sind stolz auf |9| das, was sie geschafft haben und dieses neue Selbstbewusstsein ist ein guter Ausgangspunkt für neue Beziehungen.
    Allerdings erfordert dies von unserer Seite eine Anstrengung: Wir müssen hinschauen, bereit sein unsere Meinung zu ändern auch über Phänomene, von denen wir bisher dachten, dass wir wüssten, was sich dahinter verbirgt. Ein Islamist ist nicht gleich ein Islamist und selbst bei dem, was wir bisher sicher für Terror hielten, ist ein genauerer Blick gefragt. In den Akten der ägyptischen Staatssicherheit sind Hinweise aufgetaucht, die manche der Anschläge der letzten Jahre – zum Beispiel auf dem Sinai 2005 – in einem anderen Licht erscheinen lassen. Womöglich waren es gar nicht immer Terroristen, welche die brutalen Taten begingen. Einzelheiten sind weiter unklar, des Öfteren scheinen jedoch die ägyptische Regierung und ihr Geheimdienst die Finger im Spiel gehabt zu haben.
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