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Sanctus

Sanctus

Titel: Sanctus
Autoren: Simon Toyne
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auf den Gipfel eines Bergs geschafft hatte.
    Gütiger Gott, der du bist unser Vater ...
    Doch kaum formten seine Lippen diese Worte, da erschien ein Bild vor seinem geistigen Auge, und er geriet ins Stocken. Er musste erkennen, dass er nicht länger sicher war, zu wem oder was er eigentlich betete – nicht nach der Hölle, deren Zeuge er gestern Nacht geworden war, nicht nach den Obszönitäten, die in Seinem Namen stattgefunden hatten. Samuel spürte den kalten Fels unter seinen Fingern, denselben Fels, aus dem weiter unten auch die Kammer des Sakraments gehauen war. Und diese Kammer stellte er sich nun vor – sie und das, was sie enthielt, und er empfand Staunen, Schrecken und Scham.
    Die Tränen traten ihm in die Augen, und Samuel suchte nach etwas in seinem Geist, nach irgendetwas , was dieses furchtbare Bild ersetzen konnte. Die warme, aufsteigende Luft brachte den Geruch in der Sonne getrockneten Grases mit und weckte eine Erinnerung in Samuel. In seinem Kopf nahm ein Bild Gestalt an, das Bild eines Mädchens, zuerst nur vage, doch dann immer deutlicher. Es war ein fremdes und vertrautes Gesicht zugleich, ein Gesicht aus der Vergangenheit, ein Gesicht voller Liebe.
    Samuels Hand bewegte sich instinktiv zu seiner Seite, dorthin, wo sich seine älteste Narbe befand. Sie war nicht mehr frisch und blutig, sondern schon lange verheilt. Während Samuel nun auf sie drückte, spürte er noch etwas anderes, tief in seiner Tasche vergraben. Er holte es heraus und schaute auf einen kleinen, weichen Apfel, den Rest der schlichten Mahlzeit, die er am vergangenen Abend im Refektorium kaum hatte hinunterbekommen können. Er war einfach viel zu nervös gewesen. Schließlich würde man ihn in wenigen Stunden in die älteste und heiligste Bruderschaft der Welt aufnehmen. Und nun war er hier: in seiner persönlichen Hölle auf dem Gipfel der Welt.
    Samuel verschlang den Apfel, und die Süße strömte in seinen schmerzenden Leib und verlieh seinen erschöpften Muskeln neue Kraft. Er aß den Apfel gänzlich auf; nur die Kerne spie er in seine aufgescheuerte Hand. Dabei bemerkte er einen Steinsplitter, der sich tief ins Fleisch gebohrt hatte. Er packte ihn mit den Zähnen und riss ihn heraus.
    Dann spie er auf den blutigen Stein, eine winzige Replik des schmalen Gipfels, auf dem er nun hockte. Samuel wischte den Splitter mit dem Daumen sauber und schaute ihn sich an. Er war von der gleichen Farbe und Beschaffenheit wie das häretische Buch, das man ihm zur Vorbereitung in den Tiefen der großen Bibliothek gezeigt hatte. Die Seiten waren aus einem ähnlichen Stein gefertigt und von einer längst zu Staub zerfallenen Hand mit Symbolen graviert worden. Die Worte, die Samuel dort gelesen hatte, eine Prophezeiung, warnten vor dem Ende aller Dinge, sollte das Sakrament je außerhalb der Zitadelle bekannt werden.
    Samuel ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Die Morgensonne spiegelte sich in seinen grünen Augen. Samuel dachte an all die Menschen dort unten, die ihr Leben lebten und in Gedanken und Tat nach dem Guten strebten, um Gott näherzukommen. Nach all den Tragödien in seinem Leben war er hierhergekommen, zur Quelle des Glaubens, um sich denselben Zielen zu widmen. Und nun kniete er hier, so hoch wie es nur ging, auf dem heiligsten aller Berge ...
    ... und er fühlte sich dem Herrn so fern wie nie.
    Bilder zogen durch seinen verdüsterten Geist: Bilder dessen, was er verloren hatte, und Bilder dessen, was er erfahren hatte. Und als die prophetischen Worte, die in den heiligen Stein des ketzerischen Buches graviert waren, in seine Erinnerung krochen, sah er etwas Neues in ihnen, und was er zuerst als Warnung empfunden hatte, strahlte nun wie eine Offenbarung.
    Samuel hatte das Wissen um das Sakrament schon so weit aus der Zitadelle hinausgetragen ... wie weit mochte er da noch kommen? Vielleicht würde er ja derjenige sein, der Licht in diesen finsteren Berg brachte und damit dem ein Ende bereitete, was er vergangene Nacht hatte sehen müssen. Und selbst falls er sich irren sollte, falls seine Glaubenskrise schlicht die Schwäche eines Menschen sein sollte, der das Göttliche in alledem nicht erkennen konnte, dann würde Gott doch sicherlich verhindern, dass das Geheimnis nach außen drang. Dann würde alles so bleiben, wie es war, und wer würde schon den Tod eines verwirrten Mönchs betrauern?
    Samuel schaute in den Himmel hinauf. Die Sonne war weiter aufgestiegen – der Lichtbringer, der Lebensspender. Sein Verstand
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