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Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)

Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)

Titel: Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
Autoren: Greg F. Gifune
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ihrem Daumen die Reste der Träne von seiner Wange zu wischen. »Alles wird gut«, sagt sie mit einem sanften Lächeln. »Du wirst schon sehen.«
    Dignon gibt seinem Bruder einen Kuss auf die Wange und verschwindet leise durch die Tür.
    Am Stadtrand husten die Fabrikschornsteine graue Rauchwolken aus, die den dunklen Himmel bedecken, während sie sich in gigantischen Spiralen am Horizont entlang nach oben winden. Es wird kälter, und ein steter Wind weht von der rauen Wintersee her über die Küste und schneidet durch die Stadt wie eine Rasierklinge.
    Bald wird Schnee fallen. Dignon spürt es in der Luft. Die Leute beschweren sich immer über den Schnee und das Eis, die Kälte und den Winter, aber so ist das nun mal im Nordosten. Er findet solche Beschwerden merkwürdig, wenn nicht sogar völlig unaufrichtig. Wie können sich Leute, die schon ihr ganzes Leben lang in dieser Gegend wohnen, über etwas beschweren, das ihre Umwelt derart bestimmt? Da stellt sich ihm die Frage, warum diese Leute überhaupt hier leben. Im Gegensatz zu den meisten anderen bekennt sich Dignon offen zu seiner Liebe für den Schnee, und das schon seit seiner Kindheit. Der Schnee hat etwas Magisches an sich, besonders in den frühen Morgenstunden oder am Abend, wenn es dunkel und still ist und sich nichts bewegt. Dann ist er plötzlich da, taucht wie eine Illusion aus dem Nichts auf. Irgendwie wirkt der Schnee wie aus einer anderen Welt, eine Verwandlung, die direkt vor den eigenen Augen stattfindet und das Gewöhnliche auf einen Schlag in etwas ganz Besonderes verwandelt.
    Obwohl Weihnachten erst in ein paar Wochen ansteht, ist alles bereits weihnachtlich dekoriert, mit Lichtern, Schleifen und künstlicher Fröhlichkeit. Aus billigen Lautsprechern, die an den Telefonmasten im Einkaufsviertel montiert sind, dringen Weihnachtslieder, die verzerrt und blechern klingen und endlos wiederholt werden. Von Mast zu Mast hängen ellenlange Girlanden, silbern, grün und rot. Menschen eilen geschäftig hin und her, mit Paketen beladen, das Handy am Ohr, Pläne machend, ihr Leben bestimmt von hektischen Anfällen elementarer Angst. Sie sind wie Ameisen, die durch Tunnel aus Sand wuseln, dabei nicht anhalten können, immer unter Zeitdruck sind und niemals zurückblicken. Und nicht einer von ihnen bemerkt Dignon. Niemand geht auf seinen Versuch ein, Blickkontakt herzustellen, niemand wirft ihm ein freundliches oder auch nur höhnisches Lächeln zu. Nicht nur wird er nicht beachtet, man sieht über ihn hinweg, und das ist irgendwie noch schlimmer. Dennoch ist es etwas seltsam kathartisch, sich unter andere Menschen zu begeben.
    Er hält die Papiertüte an sich gedrückt, zieht seinen Mantel fest zusammen und setzt seinen Nachhauseweg fort.
    Kein Stern ist am Himmel zu sehen. Später, wenn er sich an das hier erinnert, werden da oben Sterne sein.
    Mrs. Rogo hat die Eingangstür des Gebäudes mit einem künstlichen Adventskranz dekoriert, der mit roten Stechpalmzweigen aus Plastik überzogen und mit einem Satinband geschmückt ist, von dem zwei kleine, leicht angerostete Glöckchen hängen. Sie hat auch ihren Plastik-Weihnachtsbaum aufgestellt, der nun im Erdgeschoss durch das Fenster zur Straßenseite in einer geschmacklosen Vielfalt von Farben blinkt. Auf den Stufen steht derselbe Weihnachtsmann aus Keramik, den sie schon seit Jahren benutzt. Er strahlt glücklich. In einer Hand trägt er eine Glocke, mit der anderen hält er einen Sack mit Geschenken fest, der über seine Schulter geworfen ist. Sein Mantel ist an mehreren Stellen leicht beschädigt, deswegen sind auf dem ansonsten roten Mantel weiße Flecken zu sehen. Es sieht so aus, als wäre er mit Vogelscheiße besudelt. Der Ausdruck auf seinem Gesicht erinnert Dignon an den seines Vaters, als er und Willie noch Kinder gewesen waren. Wenn er besoffen war und nicht mehr gehen oder reden konnte und nur zusammengesunken mit einem schwachsinnigen Grinsen und seinen seelenlosen Augen dasaß, sah sein Vater genauso aus.
    Es ist schon fast neunzehn Uhr.
    Dignon bleibt lange genug auf den Stufen zum Eingang stehen, um seine Umgebung besser in sich aufnehmen zu können. Er sieht sich um, nimmt schwach Geräusche wahr, spürt das alles.
    Im Foyer sickern Weihnachtslieder von Bing Crosby aus Mrs. Rogos Wohnung und dazu der Geruch eines Hühnchens im Ofen. Leise geht Dignon die Treppe zu seiner Bude im ersten Stock hoch. Den Schlüssel hält er bereit, damit er schnell in die Wohnung kann, bevor ihn seine
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