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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten
Autoren: Peter Nimtsch
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Es war Totenstille um diese Zeit im Albert-Sonnenweiß-Stift . Selbst die vereinzelten, markerschütternden Schreie, die noch ein paar Kirchturmuhrschläge früher durch die Nacht geschallt hatten, waren verstummt.
    Die verzweifelten Kreaturen, die sie ausgesandt hatten und die von fremden, unwissenden Besuchern gewöhnlich für Verrückte gehalten wurden, die in Wirklichkeit aber nur einsame Hilferufer waren, auch sie schwiegen nun. Der Erschöpfungsschlaf oder die mächtige Wirkung der Beruhigungsmittel hatte sie überwältigt.
    Verlassen und erstarrt lagen die endlos langen, schnurgeraden Flure des Pflegeheimes im gelbbraunen Dämmerlicht versteckter Neonröhren, wie moderne Katakomben tief unter der Erde. Dieser morbide Anblick bot sich auch im ersten Stock, obwohl sich hinter den Türen links und rechts des fensterlosen Flurs weder Grabkammern befanden noch Leichen lagerten. Wenigstens ein Hauch von Leben steckte in jedem der über sechzig Körper und Seelen auf dieser Etage.
    In Zimmer 215 bewegte Marta Sausele ihre Pupillen schwerfällig zum Weihnachtsstern auf dem Fensterbrett. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Sie fühlte sich schläfrig und benommen, konnte aber trotzdem nicht einschlafen. Gedanken schwirrten durch ihren Kopf wie Mücken. Einer davon kam immer wieder: Wenn der himmlische Vater mich doch bald holen würde und das bisschen Leben endlich vorbei wäre!
    Immerhin schienen die starken Medikamente und Spritzen, die sie heute zusätzlich bekommen hatte, noch halbwegs zu wirken. Die Schmerzen waren fast weg.
    Seit sie der Pfleger vor fast zwei Stunden mit dem Gesicht zum Fenster gedreht hatte, starrte sie in die schwarze Novembernacht hinaus oder zu den schattenhaften Gegenständen in ihrem Zimmer: zum Heizkörper unter dem Fenster, zu ihren Tageskleidern, die über der Lehne des Stuhls vor der gläsernen Balkontür hingen, zum Buch auf dem Nachttisch, zur Wasserflasche, zum Trinkbecher, zum Bild ihres Sohnes, zum Wecker. Wenn sie diese Dinge, oder vielmehr ihre Umrisse, eine Weile anschaute, verschwammen sie in der Dunkelheit.
    In der Stille hörte sie leise, aber deutlich unten im Ort die Kirchturmuhr schlagen.
    Eins, ... zwei. Es war zwei Uhr.
    Noch der Viertel- und der Halbdreischlag, dann musste der Pfleger wieder kommen und sie zur Tür drehen.
    Marta Sauseles Augen wanderten wieder zum Weihnachtsstern. Ihr Sohn hatte ihn gestern bei seinem Sonntagsbesuch mitgebracht. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt hatten, meinte sie sogar die Rotfärbung der Blätter erkennen zu können.
    Jetzt kommen die verdammten Schmerzen im Fuß doch zurück, stellte sie verzweifelt, stumm fluchend fest. Selbst das vermeintlich ach so starke Mittel konnte sie offenbar nicht auf Dauer von ihrer Qual befreien.
    Ein Lichtreflex blitzte im Fenster auf.
    Was war das gewesen? Ließen die Drogen sie jetzt schon Gespenster sehen?
    Aber gleich darauf spürte sie eine Luftbewegung im Nacken.
    Also doch! Es war das Licht der matten Nachtbeleuchtung im Flur gewesen! Für eine Sekunde hatte es sich in der Fensterscheibe gespiegelt. Jemand hatte kurz hereingeschaut ... oder war hereingekommen.
    Aber so leise? Das war seltsam, denn sie hatte gar nichts gehört.
    Doch sie spürte, dass jemand hinter ihr stand!
    War das Kevin, der Pfleger? Aber der hätte sich doch nicht so hereingeschlichen! Einen Moment lang hielt sie den Atem an. Lieber Gott! Wer ist das? Sie spürte den starken Drang sich umzudrehen, war aber nicht in der Lage dazu. Ihre Lippen formten ein Wort.
    Kevin?, wollte sie fragen, als etwas auf ihren Mund schlägt und ihn fest zupresst. Eine Hand! Das Lagerungskissen hinter ihrem Rücken wird ruckartig weggezogen und ihr im nächsten Moment ins Gesicht gedrückt. Die Hand auf ihrem Mund verschwindet. Sie will durch den offenen Mund einatmen, saugt dabei aber nur das Kissen an, das nun mit gewaltiger Kraft gegen ihr Gesicht gepresst wird. Nur noch eine letzte winzige Menge Sauerstoff gelangt in ihre Lunge.
    Reflexartig schlägt sie gegen zwei Arme, die wie Säulen auf dem Kissen stehen, das ihre Nase platt drückt. Ihre Füße zappeln, ihr Körper bäumt sich auf, verkrampft sich. Todesangst erfasst sie. Ein entsetzlicher Druck in ihr wächst, macht sie wahnsinnig. Ihr Herz rast wild, ihr Hals, ihre Lunge, ihr Brustkorb schmerzen viehisch. In ihr tobt es nur noch.
    Plötzlich wird es in ihrem Inneren ruhig. Ihre weit aufgerissenen Augen nehmen über den Rand des Kissens hinweg über ihr noch etwas
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